BERLINER MORGENPOST: Die Bahn als Vorbild
Leitartikel von Philipp Neumann zur Tarifeinigung bei der Bahn
Berlin (ots)
Kurzform: Kluge Gewerkschaften - und kluge Arbeitgeber - sollten sich bemühen, die Wünsche der Arbeitnehmer zu berücksichtigen. Das ist sicherlich kompliziert, es ist auch nicht zum Nulltarif zu haben, weshalb hart gerungen werden muss. Gleichzeitig ist es aber absolut notwendig. Wenn wir immer älter werden und immer länger arbeiten können und zum Teil auch müssen, dann muss es Modelle geben, die dies erträglich machen. Dass das grundsätzlich geht, das zeigen Tarifverträge wie der bei der Deutschen Bahn. Wenn solche Vorbilder obendrein dazu führen würden, dass weniger Arbeitgeber aus Tarifverträgen flüchten, weil sie ihren Wert erkennen und mehr auf die Wünsche ihrer Belegschaft hören, dann hätten alle Seiten etwas davon.
Der vollständige Leitartikel: Dass die Deutsche Bahn sich mit einer ihrer beiden Gewerkschaften auf einen neuen Tarifvertrag geeinigt hat, ist die beste Vorweihnachtsnachricht in diesem Dezember. Kein Bahnstreik, jedenfalls kein absehbarer, das bedeutet relativ stressfreies Reisen - sofern Bahnfahren zur Weihnachtszeit überhaupt stressfrei möglich ist. Es gibt mehr Geld für die Bahn-Beschäftigten, das ist klar. Das Paket, das das Unternehmen zusammen mit der Gewerkschaft EVG auf den Tisch gelegt hat, enthält aber noch mehr. Zum wiederholten Mal haben beide Seiten einen Vertrag vereinbart, der ziemlich modern ist: In der zweiten Stufe ab Januar 2021 können die Bahnbeschäftigten wählen, ob sie mehr Geld, mehr Freizeit oder mehr Urlaub haben wollen. Das setzt sichtbar Maßstäbe. Die Bahngewerkschaft ist nicht die erste, die in Tarifverträgen ein solches Modell ausprobiert hat. Die IG Metall und Verdi haben bereits ähnliche Vereinbarungen getestet. Mit Erfolg: Wie eine Auswertung der letzten Tarifrunde bei der Bahn zeigt, entschied sich gut die Hälfte der Beschäftigten für zusätzlichen Urlaub. Die andere Hälfte nahm das zusätzliche Geld, und ein kleiner Rest von zwei Prozent wählte die Arbeitszeitverkürzung. Das zeigt Zweierlei. Erstens: Die Individualisierung und Flexibilisierung setzt sich auch bei Tarifrunden durch. Es gibt nicht mehr den einen Abschluss für alle. Die Bedürfnisse von alten und jungen Mitarbeitern, von Singles und Eltern sind höchst unterschiedlich. Gut, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber das begreifen. Gut, dass Arbeitnehmer wählen können. Für Arbeitgeber macht das die Personalplanung ganz bestimmt nicht einfacher, das ist richtig. Aber auch sie sollten ein Interesse an zufriedenen Mitarbeitern haben. Mit differenziert verhandelten Tarifverträgen können sie etwas zurückgeben - im Austausch für die wachsende Flexibilität, die sie ihren Mitarbeitern abverlangen. Die können es sich in Zeiten des Fachkräftemangels inzwischen leisten, neue Forderungen zu stellen. Das führt zur zweiten Erkenntnis: In der Arbeitswelt brechen - nicht erst seit gestern, aber doch in wachsendem Tempo - jahrzehntelange fest gefügte Strukturen auf. Arbeitszeiten entsprechen nicht mehr dem Schema "nine to five". Gleichzeitig wird der Arbeitsdruck größer: Arbeitnehmer müssen mehr Arbeit in kürzerer Zeit bewältigen. Sie konkurrieren mit Robotern und Künstlicher Intelligenz. Das Bedürfnis nach Auszeiten wird da verständlicherweise größer. In Ehen und Partnerschaften, in denen immer häufiger beide Teile arbeiten, wächst außerdem das Bedürfnis nach gemeinsamer Zeit. Dabei geht es nicht nur schlicht um Freizeit und Erholung, sondern auch um Zeit, um beispielsweise Angehörige zu pflegen. Kurz: Die Prioritäten bei vielen Arbeitnehmern verschieben sich gerade. Kluge Gewerkschaften - und kluge Arbeitgeber - sollten sich bemühen, diese Wünsche der Arbeitnehmer zu berücksichtigen. Das ist sicherlich kompliziert, es ist auch nicht zum Nulltarif zu haben, weshalb hart gerungen werden muss. Gleichzeitig ist es aber absolut notwendig. Wenn wir immer älter werden und immer länger arbeiten können und zum Teil auch müssen, dann muss es Modelle geben, die dies erträglich machen. Dass das grundsätzlich geht, das zeigen Tarifverträge wie der bei der Deutschen Bahn. Wenn solche Vorbilder obendrein dazu führen würden, dass weniger Arbeitgeber aus Tarifverträgen flüchten, weil sie ihren Wert erkennen und mehr auf die Wünsche ihrer Belegschaft hören, dann hätten alle Seiten etwas davon.
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