BERLINER MORGENPOST: Die Gefahr kehrt zurück
Leitartikel von Miguel Sanches zum Ende des INF-Vertrages
Berlin (ots)
Nach der Kündigung durch die USA vergeht ein halbes Jahr bis zum Ende des INF-Vertrages. Ist die Frist erst verstrichen, wird die Abrüstungsvereinbarung für atomare Mittelstreckenraketen kaum noch zu retten sein. Die Europäer dürfen nichts unversucht lassen. Es ist gut, dass Außenminister Heiko Maas (SPD) Amerikaner und Russen drängt, diese Zeit für Gespräche zu nutzen. Der Versuch ist ehrenwert. Und beim Versuch wird es auch bleiben. Die Erfolgschancen sind gering.
Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität. Allzu viele Staaten sind daran interessiert, Mittelstreckenwaffen zu entwickeln und zu stationieren: die USA, Indien, Pakistan, China und zum Leidwesen der Europäer auch Russland. Nukleare Sprengköpfe in einem regionalen Krieg einzusetzen, gehört wohl zu seiner Militärdoktrin.
Es ist die Rückkehr des 20. Jahrhunderts: der nuklearen Abschreckung, des Gleichgewichts des Schreckens. Zurück in die Zukunft? Die Eskalation birgt Risiken. Die USA und Russland könnten auch den New-Start-Vertrag zur Begrenzung strategischer Atomwaffen 2021 auslaufen lassen. Dann wären weitere Atomarsenale ohne Limit. Das Ende des INF-Vertrages ist mit dem Namen Donald Trump verbunden. Indes beschleichen die USA seit Jahren Zweifel, ob die Russen das Abkommen einhalten, ab 2011 wurden die Bedenken massiver, seit 2014 galt der Vertrag als gefährdet, weil die Russen ihn unterlaufen. Sie haben auch wenig unternommen, um neues Vertrauen zu schaffen. Der US-Präsident ist nur waghalsiger, skrupelloser als Vorgänger Barack Obama. Oder konsequenter. Anders als Obama hat Trump keine Visionen; wenn doch, dann nicht von einer friedlichen Welt, sondern von der Sorte, die Psychiater umtreibt.
Im Kern betrifft INF europäische Sicherheit. Nicht die USA, ihre Partner auf dem alten Kontinent befinden sich im Radius der russischen SSC-8-Marschflugkörper. Die Europäer haben drei Optionen. Erstens, sie finden sich mit der Bedrohung ab; mit hohem Erpressungspotenzial. Zweitens, sie rüsten mit Mittelstreckenwaffen nach. Das erinnert an das Wettrüsten der 80er-Jahre. Drittens, sie verlassen sich darauf, dass die USA bei einem Angriff ihren Partnern zu Hilfe eilen und ihre Interkontinentalraketen einsetzen. Die atomare Schutzgarantie hatte schon immer etwas Religiöses. Sie beruht auf den Glauben, dass die Amerikaner im Konfliktfall zugunsten ihrer Nato-Partner eingreifen und Risiken eingehen. Was sie im Ernstfall wirklich machen würden, weiß keiner. Erleben möchte man den Realitätstest nicht.
Es ist nur so, dass der Glaube an den atomaren Schutzschirm der Amerikaner noch nie so klein war wie heute. Schließlich macht Trump ("America First") kein Hehl daraus, dass nationale Prioritäten Vorrang haben vor den Interessen anderer Staaten. Das macht die Europäer erpressbar gegenüber den USA, die von ihnen mehr Anstrengungen zur eigenen Sicherheit erwarten. Wenn sie nicht parieren, verfällt womöglich die US-Versicherungspolice.
Es gibt eine Rest-Hoffnung. Womöglich haben Russen und Amerikaner Europa weniger im Blick als befürchtet, umso mehr China. Als der INF-Vertag vor 30 Jahren geschlossen wurde, war Peking noch kein Herausforderer. Aber inzwischen entwickeln die Chinesen Mittelstreckenraketen. Die Aufkündigung des Vertrages könnte der Versuch sein, die Uhr auf null zu stellen. Der nächste Abrüstungsvertrag wird ein trilaterales Abkommen mit China - oder es wird keiner. Und die Europäer? Sie bleiben militärisch unter ihren Möglichkeiten, sie sind zu vernachlässigen. Wer nicht handelt, der wird behandelt.
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