BERLINER MORGENPOST: Gefährdet im Alltag
Kommentar von Julia Emmrich
Berlin (ots)
Bitte mal durchzählen: Wie viele Frauen kennen Sie gut? Zehn, 15, 20? Und bei wie vielen dieser Freundinnen, Kolleginnen, Cousinen, Tanten und Nachbarinnen, glauben Sie, ist die Beziehung in Ordnung, respektvoll und gewaltfrei? Vielleicht haben die Frauen in Ihrem Umfeld alle Glück, und es läuft gut.
Experten gehen allerdings davon aus, dass jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von Gewalt wird, besonders häufig sind die eigenen Partner die Täter. Ein Bruchteil davon wird angezeigt - im vergangenen Jahr waren es mehr als 114.000 Fälle.
Das ist das eine. Das andere ist: Keine Statistik erfasst, was Frauen in Deutschland jenseits konkreter Attacken erleben. Keine Statistik erfasst die Angst. Es ist nicht nur die Angst von Frauen, die mit gewalttätigen Männern unter einem Dach leben. Es ist die Alltagsangst. Der angespannte Gang durch die leere Tiefgarage. Das Um-sich-Blicken an der einsamen Bushaltestelle, am Rande des dunklen Parks. Es ist die Angst der Mütter und Väter, die lieber mitten in der Nacht durch die Gegend fahren, als ihre Töchter allein auf dem Nachhauseweg zu wissen. Und die ihnen so (leider zu Recht) vermitteln: Mädchen und Frauen sind weniger wehrhaft, sind schutzloser als Jungen.
Was hilft dagegen? Mehr Sicherheit im öffentlichen Raum - klar. Aber auch das reichste Land kann nicht jede Bahnunterführung und jeden dunklen Winkel überwachen. Mehr Erziehung - auch klar. Doch was nützt es, einem jungen Mann in der Schule zu erklären, dass er Frauen nicht attackieren darf - wenn Gewalt gegen Frauen zu Hause Alltag ist? Erschreckend, aber wahr: Deutschland hat auch im Jahr 2019 keine Antwort auf die Tatsache, dass Frauen sich längst nicht so selbstverständlich durch Tag und Nacht bewegen können, wie die meisten Männer das tun.
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