Berliner Morgenpost: Im falschen Boot
Leitartikel von Laura Himmelreich zum "Titan"-Drama
Berlin (ots)
Natürlich messen wir mit zweierlei Maß. Wir berichten ausführlicher und mit mehr Artikeln über das U-Boot-Drama an der "Titanic" als über das gesunkene Flüchtlingsboot, bei dem Mitte Juni mehr als 600 Menschen umgekommen sind. Und auch Sie, unsere Leserinnen und User, verteilen Ihre Aufmerksamkeit selektiv: Wir sehen das daran, wie oft Sie Artikel auf unserer Webseite aufrufen und wie viele von Ihnen welches Stück im E-Paper öffnen.
Kaum ein Thema hat in den vergangenen Tagen so bewegt wie das Schicksal der fünf im Atlantik verschollenen Abenteurer. Bei den ertrunkenen Flüchtlingen im Mittelmeer war das Interesse deutlich geringer. Das hier ist aber keine Selbstgeißelung, keine Medienkritik und schon gar kein Vorwurf an unsere Leserinnen und Leser. Aber natürlich sagt es etwas über unsere Gesellschaft aus. Und darüber sollten wir sprechen.
Es ist für uns leichter, uns mit Millionären zu identifizieren, die etwas wagen, als mit Menschen, die aus Verzweiflung ihre Heimat verlassen. Das eine Drama erinnert uns an einen Hollywood-Plot. Das andere ist eine düstere Tragödie, in der nie ein Happy End möglich war. Die einen haben Gesichter, Namen und Instagram-Accounts. Bei den anderen wissen auch heute noch Angehörige nicht, ob der Sohn, die Tochter oder der Vater noch am Leben ist.
Je näher und ähnlicher uns eine betroffene Person ist, desto mehr fühlen wir mit ihr. Neurowissenschaftler können das messen. In ein Abenteuer aufzubrechen, ist uns näher, als wegen Hunger und Krieg zu fliehen. Das zeigt, in was für einer Wohlstandsgesellschaft wir leben und wie sicher wir uns in ihr fühlen.
Und noch ein weiterer Grund für unsere ungerecht verteilte Aufmerksamkeit ist menschlich absolut verständlich: Wir müssen unsere Psyche schützen. Auch hier wissen wir von Wissenschaftlern, dass negative Schlagzeilen Stresshormone auslösen.
Wer schlechte Nachrichten übermäßig konsumiert, überfordert den eigenen Körper mit ständiger Alarmbereitschaft. Über 1000 Geflüchtete sind allein in diesem Jahr bereits im Mittelmeer ertrunken. Unsere eigene Gesundheit erlaubt es gar nicht, jedes dieser Schicksale an uns heranzulassen.
Hinzu kommt, dass wir abstumpfen, wenn sich Nachrichten häufen. Wir haben uns an die vielen Toten im Mittelmeer gewöhnt: 20.000 Männer, Frauen und Kinder ertranken dort in den vergangenen zehn Jahren.
Ein U-Boot auf den Spuren der "Titanic", an Bord eine Gruppe Superreicher, eine tagelange Lage zwischen Hoffnung und Tragödie. Das ist ein Drama, das wir so noch nie erlebt haben. So nachvollziehbar unsere schwankende Aufmerksamkeit ist, so wenig Toleranz darf es geben, wenn der Wert eines Lebens unterschiedlich priorisiert wird. Um die Abenteurer zu retten, wurde eine internationale Mission gestartet mit Spezialschiffen, Sonargeräten und Tauchrobotern.
Im Mittelmeer war der Kutter, auf dem sich auf drei überladenen Decks die Menschen drängten, bereits einen Tag vor dem Kentern der griechischen Küstenwache bekannt. Mehrere Frachtschiffe stoppten an dem völlig überfüllten Flüchtlingsboot und fuhren danach offenbar einfach weiter.
Wir müssen nicht über jedes Opfer gleich trauern. Aber wenn den einen Hilfe zukommt und anderen Hilfe verweigert wird, müssen wir aufschreien. Die Medien und die Öffentlichkeit. Und so Politik und Gerichte zum Handeln treiben.
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