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"Berliner Morgenpost": Kiews riskante Strategie - Leitartikel von Michael Backfisch zur Krim

Berlin (ots)

Wieder gab es einen Angriff auf die Krim-Brücke, ein Bauwerk mit hoher politischer und militärischer Symbolkraft. Die Schäden sind zwar nicht so groß wie bei der Explosion im Oktober 2022, bei der der ukrainische Geheimdienst nach eigenen Angaben ebenfalls seine Finger im Spiel hatte. Doch die Botschaft des ukra­inischen Präsidenten Wolodymyr Selen­skyj ist knallhart und darf als Provokation von Kremlchef Wladimir Putin aufgefasst werden: Wir weichen nicht zurück, wir holen uns jeden Quadratzentimeter Boden unseres Territoriums zurück.

Für Putin ist die Krim heilige russische Erde. Er geht dabei weit zurück und bezieht sich auch auf Zarin Katharina die Große, die die Halbinsel 1783 "von nun an und für alle Zeiten" als russisch erklärt hatte. Der Präsident sieht sich in seinem Aggressionskrieg gegen die Ukraine in der Tradition der russischen Zaren. Sein postsowjetischer Imperialismus basiert auf der Annahme, dass Russen, Belarussen und Ukrainer "ein Volk" seien. Die international anerkannten Grenzen der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 unabhängigen Ukraine sind für ihn Makulatur. Für die Ukraine ist die Krim-Annexion durch Russland 2014 hingegen ein Trauma. Zu Beginn des Krieges war Selenskyj noch bereit, zumindest über eine Art Sonderstatus der Krim ("Hongkong-Modell") zu verhandeln. Doch nach der zunehmenden Brutalität der russischen Angriffe mit hohen zivilen Opfern auf ukrainischer Seite und nach dem Massaker von Butscha ist die Bereitschaft dahin.

Selenskyj will Russland in einem Zwei-Fronten-Krieg niederringen, der einen militärischen und einen politischen Teil hat. Sein Plan sieht vor, die von Moskau hochgerüstete Krim mit dem Sitz der russischen Schwarzmeer-Flotte in Sewastopol zu isolieren. Deshalb die Attacken auf die Krim-Brücke oder kürzlich der Angriff auf die Tschonhar-Brücke zwischen der Krim und der Südukraine.

Das Ziel: Die militärischen Nachschublinien von der Krim zu den russischen Besatzungstruppen in der Südukraine sollen durchtrennt werden. Darüber hinaus streben die Ukrainer an, einen Keil in die russische Landbrücke im Süden zu treiben. Wenn es ihnen gelingt, bis zum Asowschen Meer durchzustoßen, ist auch die Krim in Reichweite ukrainischer Raketen.

Der politische Teil von Selenskyjs Plan besteht darin, Instabilität in Russland zu schaffen. Drohnenangriffe auf Moskau sollen die russische Gesellschaft verunsichern und den Rückhalt für das System Putin schwächen. Attacken von Milizen auf Ziele in der südrussischen Region Belgorod, die zumindest von Kiew koordiniert werden, sollen zudem für Erschütterungen im Militär- und Sicherheitsapparat sorgen. Den gleichen Zweck haben offenbar gezielte Tötungen von Spitzenpersonal der Streitkräfte: So wurde kürzlich der russische Kapitän Stanislaw Rschizki beim Joggen erschossen.

Der Aufstand der russischen Privat­armee Wagner, die am 23. Juni die Garnisonstadt Rostow am Don einnahm und erst 200 Kilometer vor Moskau haltmachte, wurde in Kiew als Fanal für Putins Herrschaft gefeiert. "In Russland fängt alles gerade erst an", unkte Selenskyjs Berater Mychajlo Podoljak. Der ukrainische Präsident arbeitet auf den Zusammenbruch des Putin-Regimes hin. Ziel ist die Implosion der Kreml-Autokratie. Das ist einerseits verständlich, denn sein Land kämpft ums Überleben. Die Strategie ist jedoch auch riskant: Sie kann nach Putins Sturz zu einem Zerfall Russlands in mehrere Atommächte führen oder zur Machtergreifung eines Hypernationalisten.

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