"Berliner Morgenpost": Im Stich gelassen
Leitartikel von Jan Jessen zu Afghanistan
Berlin (ots)
Zwei Jahre nach der Machtübernahme der Taliban hat kein Staat das neue Regime bislang anerkannt. Die Taliban herrschen über ein nach 40 Jahren Krieg weitgehend befriedetes Land, in dem eine staatliche Einheit existiert. Das aber von bitterer Armut geplagt und immer wieder von Naturkatastrophen heimgesucht wird.
Die De-facto-Machthaber sehen das Leid der Menschen als gottgegeben an. Zugleich verschärfen sie die Vorschriften, die ihrer radikalen Auffassung von Glauben und Tradition entsprechen, und schließen mit den Frauen die Hälfte der Bevölkerung mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben aus.
Die früheren westlichen Besatzungsmächte, deren so ehrgeiziges wie überhebliches Demokratisierungsexperiment am Hindukusch krachend gescheitert ist, scheinen das Debakel vergessen zu wollen, indem sie Afghanistan und den Menschen dort den Rücken zukehren. Es hat den Anschein, als solle an Afghanistan ein Exempel statuiert werden.
Das ist aber in vielerlei Hinsicht falsch. Erstens ist es heuchlerisch: So hat sich in den 20 Jahren westlichen Engagements eine Geschlechtergleichberechtigung allenfalls in den urbanen Zentren entwickelt. In den Provinzen haben sich die traditionellen Geschlechterrollen kaum verändert. Auch viele Jungen können keine Schulen besuchen, weil sie helfen müssen, die Familien zu ernähren. Die Unterdrückung von Frauen hält den Westen nicht davon ab, enge Beziehungen zu Ländern wie Saudi-Arabien oder Katar zu pflegen.
Zweitens ist es sicherheitspolitisch gefährlich, sich nicht entwicklungspolitisch in Afghanistan zu engagieren: Die afghanische Filiale des sogenannten Islamischen Staates, die in Erzfeindschaft zu den Taliban steht, wird stärker. Zwar wird der IS nicht die Macht in Afghanistan übernehmen können, aber Teile des Landes könnten zu einem sicheren Hafen für Terroristen werden, die anders als die Taliban eine Bedrohung für die Sicherheit Europas sind.
Drittens erhöht die ausufernde Not den Migrationsdruck. Und viertens ist es ein moralischer Offenbarungseid, Afghanistan im Stich zu lassen. Die Kinder, die jetzt in den Provinzen verhungern, können nichts für die politische Situation im Land. Frauenrechte nützen Frauen nichts, wenn sie nichts zu essen haben.
Es führt kein Weg daran vorbei, das Offensichtliche anzuerkennen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Die Taliban beherrschen Afghanistan, und es gibt keine realistische Aussicht darauf, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird. Sie regieren über Menschen, die nach 40 Jahren Krieg des Kämpfens müde sind und nur noch überleben möchten.
Innerhalb der Taliban-Führung gibt es unterschiedliche Fraktionen. Manchen gehen die radikalen Erlasse des obersten Führers Hibatullah Achundsada und seines Zirkels in Kandahar zu weit. So kritisierten einige Taliban-Führer das Verbot des Universitätsbesuchs für Frauen. Je länger sich die Welt von Afghanistan abwendet, desto mehr setzen sich die fundamentalistischen Kräfte durch.
Es muss ein pragmatischer Ansatz des Umgangs mit den Taliban gefunden werden. Sie müssen nicht als legitime Regierung, aber als Verhandlungspartner anerkannt werden. Afghanistan braucht Infrastruktur und Ernährungssicherheit. So seltsam, ja zynisch es klingen mag: Jetzt kann Hilfe gezielter ins Land gesteuert werden, als das vor der Machtübernahme der Taliban der Fall war. Es herrscht zumindest Frieden in Afghanistan.
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