All Stories
Follow
Subscribe to BERLINER MORGENPOST

BERLINER MORGENPOST

Berliner Morgenpost/Verunsicherter Realismus/Leitartikel von Jan Jessen

Berlin (ots)

Die Erfolgsmeldungen des ukrainischen Generalstabs klingen in diesen Tagen fast trotzig. Man mache Fortschritte im Raum Bachmut und an den Frontabschnitten im Süden, die Gegenoffensive komme voran. Tatsächlich sind die belegbaren Geländegewinne noch immer rein taktischer Natur. Die ukrainischen Streitkräfte haben die erste russische Verteidigungslinie an der Saporischschja-Front zwar überwunden, der große Durchbruch Richtung Süden ist aber noch nicht gelungen.

Soldaten, die im Osten und im Süden eingesetzt sind, sprechen von enorm blutigen und brutalen Kämpfen. Anders als im vergangenen Herbst, als die Ukrainer große Gebiete im Raum Charkiw und die Stadt Cherson befreien konnten, leisten die russischen Streitkräfte noch immer erbitterten und geordneten Widerstand. Im Norden bei Kupjansk üben die Russen beständig großen Druck aus und führen Entlastungsoffensiven durch, um ukrainische Truppen zu binden. Noch haben die ukrainischen Streitkräfte bei weitem nicht alle Reserven in die Kämpfe geworfen, noch sind einige Wochen Zeit, bis der Herbstregen einsetzt und die Schlachtfelder in Schlammwüsten verwandelt. Noch kann es geschehen, dass an den Fronten ein Domino-Effekt einsetzt und die russische Verteidigung zusammenbricht.

Darauf hoffen die Menschen in der Ukraine. Jedoch ist der Optimismus der vergangenen Monate vielerorts einem verunsicherten Realismus gewichen. Die große Befürchtung, die in Gesprächen immer wieder geäußert wird, ist, dass beim Ausbleiben nachhaltiger und deutlich sichtbarer militärischer Erfolge die Unterstützung durch die westlichen Partner nachlassen wird. Der Glaube an einen raschen Sieg schwindet.

Zwar haben sich die Ukrainerinnen und Ukrainer im Krieg eingerichtet. Die ständigen russischen Luftangriffe auf die zivile Infrastruktur lösen keine Panik mehr aus, nur Wut über die Unbarmherzigkeit des Terrors, dem immer wieder Zivilisten zum Opfer fallen. Das Leben in den frontfernen Städten im Westen wirkt auf den ersten Blick normal. Schulen, Geschäfte und Restaurants sind geöffnet.

Viele Menschen, die nach dem Beginn des Überfalls geflohen waren, sind wieder in die Heimat zurückgekehrt. Jedoch wächst die Sorge vor einem erneut harten Winter, in dem die russischen Invasoren möglicherweise wieder versuchen werden, die Städte in Dunkelheit und Kälte zu bomben, um die Moral der Bevölkerung zu brechen. Gleichzeitig herrscht Unverständnis über die anhaltende Zögerlichkeit von manchen Verbündeten, der Ukraine jene Waffen zu liefern, um die die ukrainischen Militärs bitten.

Tatsächlich ist das Ritual, das sich um diese Waffenlieferungen entwickelt hat, schwer nachzuvollziehen. Deutschland hat sich monatelang geziert, der Ukraine Kampfpanzer zur Verfügung zu stellen. Während über diese Lieferung debattiert wurde, hatten die Russen Zeit, ihre Verteidigungsstellungen auszubauen. Gleiches gilt für die Diskussionen um die Ausstattung der ukrainischen Luftwaffe mit F16-Kampfjets zum Schutz der Infanterie oder den Streit um die Lieferung deutscher Taurus-Marschflugkörper, mit denen russische Nachschubrouten gekappt werden könnten.

Am Ende dieser zähen Debatten stand bislang immer die Lieferung des Gewünschten. Bis das Material auf dem Schlachtfeld eingesetzt werden konnte, waren aber viele ukrainische Soldaten gestorben. Schnellere Entscheidungen würden eine moralische Unterstützung für die ukrainische Bevölkerung sein.

Pressekontakt:

BERLINER MORGENPOST

Telefon: 030/887277 - 878
bmcvd@morgenpost.de

Original content of: BERLINER MORGENPOST, transmitted by news aktuell

More stories: BERLINER MORGENPOST
More stories: BERLINER MORGENPOST
  • 08.09.2023 – 19:40

    Berliner Morgenpost/Ende gut? Nichts gut!/Kommentar von Julia Emmrich

    Berlin (ots) - Das Heizungsgesetz kommt, die Ampel hat die Wärmewende am Freitag im Bundestag auf den Weg gebracht. Also Ende gut, alles gut? Zumindest für die Ampel-Parteien, die bei ihrem Heizungsdrama lange Zeit gar keine Opposition brauchten, weil FDP und Grüne das selbst erledigten? Nein, das Heizungsgesetz kommt - aber nichts ist gut. Im Gegenteil: Der ...

  • 07.09.2023 – 19:00

    Zäune sind keine Lösung - Kommentar von Joachim Fahrun

    Berlin (ots) - Kai Wegner hat ein Gefühl für politische Stimmungen. Insofern ist es gut, dass sich der Regierende Bürgermeister eines Themas annimmt, das viele Bürgerinnen und Bürger umtreibt: der schon lange nicht mehr hinnehmbaren Lage an Berlins Drogen-Hotspots Görlitzer Park und Leopoldplatz. So sehr sich die Situationen in der Kreuzberger Grünanlage und auf dem Weddinger Stadtplatz auch unterscheiden, so ist ...

  • 03.09.2023 – 19:00

    Söders schlauer Schachzug - Kommentar von Christian Unger

    Berlin (ots) - Ministerpräsident Markus Söder lässt Radikalinski und Vizeregierungschef Hubert Aiwanger im Amt. Die Entscheidung ist richtig. Söders Kabinett geht nicht kurz vor der Wahl in Bayern in die Brüche. Söder will sich weiter mit konservativer Linie gegen die Grünen profilieren, seinen Hauptgegner im Wahlkampf. Söder lässt Aiwanger im Amt - auch aus Eigennutz. Aber seine Entscheidung ist auch im Umgang ...