Berliner Morgenpost: Kommentar SPD
Berlin (ots)
Es drängt sich der Verdacht auf, dass die gebeutelte SPD eine Stellvertreterrolle spielt für das nachkriegsdeutsche Gesellschaftssystem. Ihr Niedergang ist der Niedergang eines Prinzips, mit dem die Gründerväter dieser Republik ihr Land befrieden und einhegen wollten: Wohlstandsverheißung als säkularer Radikalenerlass. Adenauers Misstrauen in seine Deutschen ist ja hinreichend bekannt, und viele Systementscheidungen gerade auch im sozialen Bereich, die uns heute so sauer aufstoßen, haben hier ihren wahren Grund. Gebt ihnen Geld, dann werden sie nicht mehr böse, lautete Adenauers Devise. Die zweite deutsche Demokratie war eben von Anfang an eine freiheitliche Gesellschaft unter regulierten Randbedingungen. Wie keine andere Partei verkörpert die SPD diesen Wohlfahrtskonsens, das Kollektivversprechen, dass möglichst viele an möglichst vielem teilhaben dürfen. Jetzt ist diese säkulare Aufstiegsbewegung ihren Scheitelpunkt überschritten, und die Sozialdemokraten vibrieren in den Abstiegsängsten ihrer Klientel das tun sie ebenfalls stellvertretend für das ganze Land. Auch in der Union ahnt man doch, dass diese Krise keineswegs nur eine unzulängliche Regierungspartei und deren linken Traditionskern infrage stellt, sondern den gesellschaftlichen Konsens und die Ligaturen unseres Landes schlechthin. Niemand bestreitet doch mehr den ökonomischen Ernstfall. Das System bricht systemisch an vielen Stellen wie ein Staudamm, der den gewaltigen Wassermassen nicht mehr standhält. Auch das ist ein Grund für die Chaoswahrnehmung der Reformpolitik: Der Vorgang selbst verläuft chaotisch. Aber er bedroht nicht nur die sozialen Sicherungssysteme, deren Effizienz und Bezahlbarkeit; er greift auch den symbolischen Kitt an, der diese Gesellschaft zusammenhält. Nicht von ungefähr geistert das Stichwort Patriotismus wieder durch die deutsche Reformdebatte, als ob ein solcher Fahnenappell den Sozialkonsens ersetzen könnte, der deutsche Tradition und Lebensform geworden ist. Kein noch so schriller Verweis auf Thatcher und die Reagonomics kann ignorieren, dass der deutsche Weg ein anderer ist und ein wirtschaftlicher Paradigmenwechsel notgedrungen auch den gesellschaftlichen nach sich zöge. Davor scheut die deutsche Politik instinktiv zurück. Das lässt sie so mutlos und zögerlich erscheinen. Keiner will mit der Kontinuität des Einhegungsstaates brechen, keiner will die Nagelprobe machen, ob die Deutschen eine offene Gesellschaft westlichen Zuschnitts inzwischen tatsächlich aushalten können, ohne über deren Tradition und Geschichte zu verfügen.
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