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Berliner Morgenpost: Kommentar zu Schönbohm

Berlin (ots)

Eine menschliche Tragödie ist nun auch zum
Politikum geworden. Mit seinen Erklärungsversuchen zum neunfachen
Babymord einer Mutter aus dem brandenburgischen Brieskow-Finkenheerd
hat Brandenburgs Innenminister und CDU- Landesvorsitzender Jörg
Schönbohm am falschen Fall und zur Unzeit einen heftigen Streit vom
Zaun gebrochen, den er sich, seiner Partei und dem so beschwerlichen
Zusammenwachsen von Ost und West besser erspart hätte. Seine
Behauptung, die von der SED erzwungene Proletarisierung sei eine der
wesentlichen Ursachen für die Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft in
Ost-Deutschland und damit mitverantwortlich auch für die schier
unvorstellbare Tat dieser Mutter, ist derart pauschal und simpel
zugleich, daß sie zwangläufig Kritik herausfordert. Auch seine
nachgeschobene Relativierung, er habe nur zu erklären versucht, warum
im Osten so viele Menschen bei Straftaten und Gewaltdelikten
wegschauten, kann Schönbohm nicht entlasten. Denn sie hilft nicht
wirklich weiter, im konkreten Fall die schrecklichen Taten einer
Mutter und deren Hintergründe zu erklären. Als mittlerweile
medienerprobter Politiker und Minister eines ostdeutschen Landes
hätte der einstige General zudem wissen müssen, welch erneut
unsägliche Ost-West-Debatte er lostreten und welch sattsam bekanntes
parteipolitisches Ritual, verstärkt noch durch den Wahlkampf, er
auslösen würde. Dabei ist ja eine Debatte über den offenkundigen
Werteverfall, der im Osten zweifellos ausgeprägter ist als im Westen,
längst überfällig. Aber der Anstoß dafür kann nun wahrlich keine
Mutter liefern, die ihre Babys tötet. Ähnlich grausame Verbrechen
gibt es bekanntlich auch im Westen. Daß der gesellschaftliche
Totalumbruch seit 1990 noch heute in vielen ostdeutschen Familien
Verwirrungen auslöst, daß der Verlust an verbindlichen Werten und
damit an selbstauferlegten moralischen Schranken auch mit dem
fehlenden Bürgertum, das von der SED systematisch zerstört wurde, zu
erklären ist, ist weitgehend unstrittig. Werte wie Mitverantwortung,
Gemeinsinn, Kümmern um die nächste Nachbarschaft stärker als bislang
zu vermitteln, muß Aufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte sein. Über
den Weg zu diesem Ziel kann nur gemeinsam nachgedacht werden. Ganz
grundsätzlich, weit über den Tag hinaus, lösgelöst von einem
schrecklichen Einzelverbrechen.
ots-Originaltext: Berliner Morgenpost
Digitale Pressemappe:
http://www.presseportal.de/story.htx?firmaid=53614

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