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WirtschaftsWoche/Standpunkt: Nietzsche ist tot - von Chefredakteur Stefan Baron

Düsseldorf (ots)

"Credo, ut intelligam“ schrieb Anselm von
Canterbury 1077 in seinem „Proslogion“: Ich glaube, damit ich
verstehe. Der große Scholastiker brachte damit nicht nur den
(positiven) Zusammenhang zwischen Glauben und Erkenntnis, sondern
auch den zwischen Glauben und Erfolg auf den Punkt.
Ich glaube, damit ich verstehe – nicht wie ein Hybridmotor oder
Hartz IV funktioniert, sondern wer und was ich bin, was der Sinn
meiner Existenz ist. Ich glaube, so der katholische kolumbianische
Philosoph Nicolás Gómez Dávila in seinen „Escolios a un texto
implícito“ 1977, um „in die Eingeweide“ dessen vorzudringen, was ich
„bloß weiߓ, in die Region, in die schließlich gelange, wer die
sichtbaren Dinge so intensiv wahrnimmt, dass er „die Realität des
Unsichtbaren“ fühlt. Diese Region, diese Realität wird gemeinhin Gott
genannt.
Nun hat Friedrich Nietzsche 1882 in „Die fröhliche Wissenschaft“
Gott bekanntlich für „tot“ erklärt. Und seitdem ist der Gottesglauben
in der westlichen Welt, vor allem aber in Westeuropa, stetig
geschwunden, ist an die Stelle des Gotteskultes zunehmend ein
Menschenkult getreten. Es ließe sich auch sagen: Der Mensch ist Gott
geworden, denn eine andere Wahl gibt es ja wohl nicht, wir sind
entweder Geschöpfe Gottes oder selbst die höchsten Wesen.
Doch wenn der Mensch und sein Leben der letzte Zweck, wenn das
Universum nicht in einem „metaphysischen Abenteuer begriffen“ ist,
dann werde, so Gómez Dávila, „alles trivial“. Dies gelte sogar für
den Schmerz, wenn wir diesen bloß für einen physiologischen Vorgang
hielten, „statt für einen metaphysischen Skandal."
Der Glaube ist und bleibt ein Abenteuer, weil wir Gott als Lebende
nie zu Gesicht bekommen, aber er ist doch ein Abenteuer, das sich
lohnt. Wenn der Mensch selbst Gott spielt, ist das Abenteuer
jedenfalls erheblich größer: Hitler, Stalin oder Mao sind dafür
Beweis genug. „Wenn Gott nicht ist“, so Fjodor M. Dostojewski in „Die
Brüder Karamasow“, „ist alles erlaubt.“ Wo Gott den Menschen nicht in
Zucht hält, ergreift leicht der Teufel Besitz von ihm. So wird
Glauben am Ende sogar ein Gebot der Vernunft.
Immer mehr Menschen sehen das offenbar auch so. Nicht Gott ist
tot, sondern Nietzsche. Der Atheismus ist auf dem Rückzug. Gerade hat
ein jahrzehntelanger, prominenter Vorkämpfer des Atheismus, der
britische Philosophieprofessor Antony Flew, widerrufen. Nicht nur in
der islamischen Welt erlebt der Glauben neuen Auftrieb. In den USA
wurde der bekennende Christ George W. Bush im Präsidentenamt
bestätigt.
Nur (West-)Europa steht bisher noch abseits. Hier bezeichnet sich
ein Viertel der Bevölkerung, dreimal mehr als in den USA, als
Atheisten. Hier könnte Bush nicht einmal EU-Kommissar werden, wie das
Berufsverbot zeigt, das Brüssel über den Katholiken Rocco Buttiglione
verhängte, weil dieser Homosexualität als „Sünde“ zu bezeichnen wagte
(nicht ohne hinzuzufügen, dass dies den Staat nichts anginge, solange
es nicht strafbar sei).
Während in den USA also Glauben auch öffentlich Erfolg verspricht,
ist in Europa offenbar das Gegenteil der Fall. Die Frage lautet, wie
lange noch: In den neuen EU-Mitgliedsländern Ost- und Mitteleuropas
ist die Zahl der selbsterklärten Atheisten mit zwölf Prozent nicht
einmal halb so groß wie im Westen. Das wird nicht ohne Konsequenzen
bleiben. Hinzu kommen die Herausforderungen durch einen expansiven
Islam und durch die in die EU drängende Türkei. Sie werden dem
Christentum auch in Europa eine neue Chance verschaffen.
Das muss nicht das Zurück in eine vor-säkuläre Zeit bedeuten, in
der der Glaube die Regeln des Zusammenlebens bestimmte. Es kündigt
aber das Entstehen einer „post-säkularen Gesellschaft“ an, wie Jürgen
Habermas sie nennt, einer Gesellschaft, in der Glauben als wichtige,
vielleicht überlebenswichtige Voraussetzung eines Moralgerüsts für
den Einzelnen und eines Zusammengehörigkeitsgefühls für die
Gemeinschaft neue Anerkennung findet.
Auch das wäre ein Erfolg.
Stefan Baron, Chefredakteur WirtschaftsWoche

Kontakt:

WirtschaftsWoche, Sekretariat Chefredaktion, Frau Zenke-
Stoffels, Tel: 0211-887-2114, Fax: 0211-887-972114

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