Neue OZ: Kommentar zu Marcel Reich-Ranicki
Osnabrück (ots)
Mann des Maßstabs
Zum Opfer hatten ihn die Nazi-Schergen wie Millionen andere bestimmt, zum Repräsentanten des Landes der Täter ist Marcel Reich-Ranicki geworden. MRR, so die zum Markenzeichen verdichtete Kurzform seines Namens, war in jeder Hinsicht ein Solitär, als polemischer Kritiker, als leibhaftige Kulturinstitution, vor allem aber als Held eines Lebens, das mit Motiven wie Todesgefahr, Verfolgung, Prominenz und Ruhm selbst zum Stoff eines packenden Romans taugte. Marcel Reich-Ranicki hat Krieg, Terror und Ausgrenzung nicht nur durchlebt, er hat sie überwunden. Literatur, Sprache und Kritik formierten für ihn nicht bloß einen Kulturbetrieb, sie bildeten für Reich-Ranicki eine Kulturheimat, in der er sich gerettet fühlen konnte.
Darin liegt die existenzielle Dimension seiner oft nur als Entertainment wahrgenommenen Kritik. Polemik war für Reich-Ranicki kein Selbstzweck. Sein scharfes Urteil spiegelte einen kompromisslosen Anspruch. Deshalb bleibt er als Mann des Maßstabes im Gedächtnis, der sich darauf verstand, aus einem Fachdiskurs ein Medienereignis zu machen. Reich-Ranicki hat Literatur populär gemacht und zugleich der Kritik als Instanz Ansehen verschafft, indem er sie rigoros betrieb. Damit forderte er die ganze Mediengesellschaft in ihrer kollektiven Mittelmäßigkeit heraus. Allein darin liegt ein historisches Verdienst. MRR hat bewiesen, dass die Stimme des Einzelnen zählt. Das ist eine wichtige Lehre, vor allem für das digitale Zeitalter.
Stefan Lüddemann
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