NOZ: Historiker-Vorsitzende: Proteste wie in Chemnitz sind normal und letztlich nützlich
Osnabrück (ots)
Historiker-Vorsitzende: Proteste wie in Chemnitz sind normal und letztlich nützlich
"Gravierende gesellschaftliche Schieflage" - Historikertag in Münster steht bevor
Osnabrück. Die Vorsitzende des Deutschen Historikerverbandes (VHD), Eva Schlotheuber, hat gesellschaftlichen Dissenz wie derzeit um die Flüchtlingsfrage als normal und letztlich nützlich bewertet. In einem Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Donnerstag) sagte die Professorin, "eine Gesellschaft lebt davon, dass sie sich durch Konflikte erschüttern lässt und sich in der Folge wandelt und weiterentwickelt". Dissenz setze den Prozess des Nachdenkens und damit Anpassung an neue Gegebenheiten in Gang. Mit Blick auf die jüngsten Vorgänge in Sachsen sagte die VHD-Vorsitzende: "Derart massive und anhaltende Proteste sind ein Anzeichen für eine gravierende gesellschaftliche Schieflage, der man auf jeden Fall aufmerksam und konstruktiv begegnen sollte. Das muss man aus historischer Perspektive ebenso nüchtern wie deutlich sagen, ohne dass man Extremisten hinterherlaufen darf."
Sie sehe mit Sorge, dass Chemnitz und die Folgen nicht nur eine geteilte, sondern eine gespaltene Gesellschaft mitsamt Unversöhnlichkeit und Hass verdeutlichten. "In einer gespaltenen Gesellschaft fehlt die Bereitschaft zu einem wirklichen Dialog. Dann wird es für eine Demokratie schwierig", warnte die Historikerin, die Geschichte an der Universität Düsseldorf lehrt.
"Gespaltene Gesellschaften" lautet auch das Motto des 52. Historikertages vom 25. bis 28. September in Münster, dem mit mehr als 3500 Teilnehmern größten geisteswissenschaftlichen Kongress in Europa. Historisches Wissen schützt laut Schlotheuber vor Spaltung und Populismus. Es sei "ein gutes Wirkmittel gegen 'fake news' und Geschichtsverfälschungen aller Art oder einfache populistische Antworten, wenn man sich selbstständig im historischen Raum orientieren kann". Sich mit der Vergangenheit zu befassen setze die Fähigkeit voraus, "nicht die eigenen Vorstellungen und Sichtweisen in den Mittelpunkt" zu rücken, sondern zu versuchen "'fremde' Stimmen und Prozesse in Erfahrung zu bringen und zu verstehen". Historische Bildung schule daher Toleranz und Dialogbereitschaft.
Historiker-Vorsitzende: Lesen und Schreiben nicht selbstverständlich
Professorin warnt vor verringertem Geschichtsunterricht - "Fataler Fehler" - Keine Besserung trotz G9
Osnabrück. Die Vorsitzende des Deutschen Historikerverbandes (VHD) hat vor einer mangelnden Wertschätzung des deutschen Bildungsstandards gewarnt. In einem Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Donnerstag) sagte Eva Schlotheuber, dass jeder Lesen und Schreiben lernen könne, sei aus historischer Perspektive nicht als normal zu betrachten und müsse "keinesfalls selbstverständlich auf so hohem Niveau wie gewohnt Bestand haben". Die Zahl der Analphabeten in Deutschland sei viel höher, als man glaube. Selbst unter Studenten zeigten sich zunehmende Mängel. "Im Unialltag erleben wir, dass die Fähigkeit, komplexere Texte aufzunehmen, nicht mehr vorausgesetzt werden kann", sagte Schlotheuber, die als Professorin Geschichte in Düsseldorf lehrt. Unter solchen Bildungsmängeln leide eine zentrale Zugangsvoraussetzung zu Wissen und Weiterentwicklung.
Schlotheuber plädierte ferner dafür, dem Fach Geschichte in den Schulen mehr Raum zu geben. Trotz des Trends zur verlängerten Schulzeit (G9) könne sie "nicht erkennen, dass der Geschichtsunterricht wieder gestärkt wird". Aus Sicht ihres Verbandes sei dies ein "fataler Fehler". Politisch geprägter Unterricht könne das Defizit nicht ersetzen. "Gerade in Zeiten der weltweiten Vernetzung ist es notwendig, nicht nur die eigenen Wurzeln verorten zu können, sondern auch die der anderen", sagte Schlotheuber. Für eine fundierte Schulbildung sei der Geschichtsunterricht daher nicht nur in den Gymnasien als eigenständiges Unterrichtsfach zu erhalten. "In der Oberstufe sollte Geschichte durchgehend unterrichtet werden, unabhängig davon, welchen Schwerpunkt die Schule, die Schülerin oder der Schüler verfolgt", forderte Schlotheuber.
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