neues deutschland: zum Wort des Jahres 2016
Berlin (ots)
Was ist eine »postfaktische Politik«? Lassen wir zunächst die Fakten sprechen. Das Online-Lexikon Wikipedia versteht darunter ein »politisches Denken und Handeln, bei dem Fakten nicht mehr im Mittelpunkt stehen«. Während in einem demokratischen Diskurs »nach dem Ideal der Aufklärung über die zu ziehenden Schlussfolgerungen aus belegbaren Fakten« gestritten werde, werde in einem postfaktischen Diskurs »gelogen, abgelenkt oder verwässert«. Die Definition, die uns Wikipedia liefert, ist allerdings nicht ganz richtig. Auch jene, denen jetzt postfaktisches Denken unterstellt wird, berufen sich in ihrer Argumentation auf Fakten. Wer zum Beispiel behauptet, dass eine Person, die von einem nach Deutschland geflüchteten Menschen ermordet wurde, noch leben würde, hätte man diesen Menschen nicht nach Deutschland einreisen lassen, hat ja durchaus recht; sein Argument lässt sich faktisch nicht widerlegen. Das Problem der postfaktischen Politik ist anderer Natur. Es fehlt ihr ein wichtiges Element der Aufklärung, ohne das ein vernunftbegabter Diskurs nicht möglich ist: die Empathie. »Er ist ein Mann von Verstande, aber von ganz gemeinem Verstande«, lässt Goethe den jungen Werther über dessen kühl kalkulierenden, aber herzlosen Arbeitgeber reden. Wer nur über den Tod von Angehörigen der eigenen Nationalität oder des eigenen Kulturkreises sich zu empören vermag, ist von wahrlich ganz gemeinem Verstande.
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