Stiftung RUFZEICHEN GESUNDHEIT!
Der bewegte Mensch - Beim Expertenforum der Stiftung RUFZEICHEN GESUNDHEIT! diskutierten Wissenschaftler Maßnahmen zur Bewegungsförderung - von Florian Schumann
München (ots)
Bewegung kann einen enorm positiven Effekt auf die Gesundheit haben, wenn sie richtig dosiert und ausgeführt wird. Um dieses Potenzial auszuschöpfen, muss Bewegung in die individuellen Lebenswelten der Menschen einziehen. Das war eine der Kernforderungen beim Präventionssymposium "Wie kann Bewegungsförderung gelingen?" der Stiftung RUFZEICHEN GESUNDHEIT! am 17. März, an dem renommierte Experten für Sportwissenschaft und Gesundheitssport verschiedener deutscher Universitäten sowie Vertreter des Bundesgesundheitsministeriums und des Berliner Robert Koch-Instituts teilnahmen. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Diskussion wurden in Form von zehn Thesen formuliert.
Das Forum in Baierbrunn bei München wurde inhaltlich konzipiert und geleitet von Klaus Bös, dem ehemaligen Leiter des Instituts für Sportwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Petra Wagner, Direktorin des Instituts für Gesundheitssport und Public Health an der Universität Leipzig. Bös betonte zu Beginn der Veranstaltung, dass Bewegung als Präventionsmaßnahme durchaus differenziert betrachtet werden müsse: "Welcher Sport ist für wen, wie und wofür gesund?". Dann formulierten Bös und Wagner die zentrale Frage des Symposiums, die immer noch nicht in ausreichendem Maße beantwortet sei: "Was können Erfolgsfaktoren sein, damit Bewegungsförderung gelingen kann?"
Dabei schwebte über allen Diskussionen das sogenannte Präventionsdilemma: Es hat in der Vergangenheit viele Projekte gegeben, um Bewegungsförderung in der Gesellschaft zu verankern. Dabei stieß die individuelle Prävention jedoch an Grenzen. Während Menschen mit höherer Bildung häufig bereits von sich aus nach Feierabend Sport treiben und somit wenig Bedarf an zusätzlicher Prävention haben, erreichten die Maßnahmen oft diejenigen nicht, die sie besonders nötig hätten, nämlich Menschen mit tendenziell niedrigerem Sozialstatus. Somit war klar: Der Bewegungsmangel muss bei den Lebensverhältnissen angegangen werden.
Bisher waren außerdem belastbare Zahlen rar, wie viel Bewegung in unterschiedlichen Altersstufen überhaupt nötig ist. Klaus Pfeifer und Alfred Rütten von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg haben diese Frage umfassend untersucht und erstmals nationale Empfehlungen vorgelegt (1). Dafür werteten die Forscher Hunderte Studien aus und entwickelten für Säuglinge, Kinder, Erwachsene sowie ältere und chronisch kranke Menschen jeweils detaillierte Handlungsempfehlungen. (1) https://www.sport.fau.de/files/2016/05/Nationale-Empfehlungen-für-Bewegung-und-Bewegungsförderung-2016.pdf
Dass diese bitter nötig sind, zeigen Zahlen des Robert Koch-Instituts. Die Bundesbehörde befragt seit Jahren die Deutschen nach Art und Umfang ihrer Bewegung. Obwohl immer mehr Menschen Sport treiben, bewegen sich die meisten Deutschen nach wie vor nicht genug, um damit ihre Gesundheit verbessern zu können. Dabei gibt es große Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen. Personen mit hohem Sozialstatus verrichten im Job oft sitzende oder stehende Tätigkeiten, die sie mit Sport in ihrer Freizeit ausgleichen. Dagegen üben Menschen mit niedrigem Sozialstatus oft körperlich schwere Berufe aus. Insgesamt bewegen sie sich zwar oft mehr als Büroarbeiter, aber gesund ist ihre Arbeit deswegen noch lange nicht.
Bewegung ist also nicht gleich Bewegung. Am wichtigsten aber ist laut den Experten, dass die körperliche Aktivität in alle Lebenswelten einzieht. Und das fängt im Kleinen an. Gesine Grande, Rektorin der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, betonte, dass verhältnis- und verhaltensbezogene Ansätze sich ergänzen müssten. Das beginne schon im Quartier: Attraktive Treppen, breite Gehwege mit Geschäften und sichere Radwege können Anreize für mehr Bewegung sein. Dafür sei allerdings ein Miteinander von Akteuren aus Politik, Bildung und Gesundheitswesen essentiell - und oft auch viel Geduld. Die zahle sich jedoch aus, denn nur so könne ein gesundheitsförderliches Verhalten erreicht werden.
Außerdem sei es wichtig, die Menschen in die Projekte einzubeziehen, damit langfristig Erfolge erzielt werden können. Grande stellte in diesem Zusammenhang das Projekt "Grünau bewegt sich" vor. In dem Leipziger Plattenbauviertel wurden verschiedenste Maßnahmen angestoßen, um etwa dem hohen Anteil adipöser Kinder und Jugendlicher zu begegnen. Das Projekt umfasst Ernährungstage oder die Aktion "Bewegt zur Schule", bei der Kinder ihren Schulweg neu entdecken. Zudem sei die Maßnahme eine der ersten in Deutschland, die nach wissenschaftlichen Standards ausgewertet werden.
Genau an dieser wissenschaftlichen Evidenz fehle es noch den Neuen Medien, etwa Smartphone-Apps aus dem Fitnessbereich. Bislang ließen die Programme oft die theoretische Fundierung vermissen und auch der Datenschutz sei häufig mangelhaft. Trotzdem stellen sie die vielleicht größte Chance dar, auch bisher schwer erreichbare Zielgruppen vom Nutzen der Bewegung zu überzeugen.
Mit diesem positiven Ausblick endete das Expertenforum. Die Wissenschaftler formulierten aus den wichtigsten Punkten der ambitionierten Diskussion die zehn Baierbrunner Thesen zur Bewegungsförderung. Sie sollen in den nächsten Jahren dabei helfen, endlich mehr Bewegung ins Leben aller Deutschen zu bringen.
Baierbrunner Thesen zum Präventionssymposium der Stiftung RUFZEICHEN GESUNDHEIT! am 17. März 2017
Präambel
Die Bevölkerung in Deutschland ist auch heute noch weit davon entfernt, gesundheitsfördernde Bewegung in ausreichendem Maße zu betreiben. Es ist an der Zeit, mit veränderten und vor allem nachhaltigeren Strategien mehr Bewegung in die Lebenswelten der Menschen zu bringen und Inaktivität zu verringern. Denn: körperliche und sportliche Aktivitäten stärken die individuelle Gesundheit und führen zu erheblichen Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen.
1. Die Förderung von Bewegung und Sport ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe! Deshalb müssen Entscheider aus den verschiedensten Bereichen zusammenwirken: Bildung, Politik, Versicherungen, Vereine und Organisationen, Wirtschaft und Technik, Kommunen und andere.
2. Bewegungsförderung in der Lebenswelt verspricht den größten Erfolg! Strategien zur Veränderung der körperlichen Aktivität müssen in den alltäglichen Lebenswelten wie Familie, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, Arbeit, und Kommune verankert werden. Nur so erreichen wir auch die Einbindung sozial und gesundheitlich Benachteiligter, uninteressierter oder bewegungsferner Menschen.
3. Bewegungsförderung muss differenzierte gesundheitsrelevante Ziele haben! Bewegung kann Gesundheit umfassend stärken - physisch, psychisch und sozial aber nicht jede Bewegung ist gleichermaßen gesund. Eine systematisch auf Gesundheit abzielende Bewegungsförderung dient sowohl der Minimierung gesundheitlicher Risiken, als auch der Stärkung des gesundheitlichen Wohlbefindens.
4. Bewegungsförderung braucht Vernetzung! Bewegungsförderung betrifft alle, unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildung oder Milieu. Deshalb müssen Akteure aus Politik, Bildung, Kommunen, Sportverbänden, Gesundheitswesen, Medien und anderen Institutionen zusammengeführt werden, um effektiver bei der Entwicklung und Implementierung von Bewegungsmaßnahmen zusammenzuarbeiten.
5. Bewegungsförderung muss nachhaltig sein! Es gilt, die Bewegungsförderung mit nachhaltigen Strategien langfristig in den Lebenswelten zu verankern und dauerhafte Strukturen zu schaffen. Das ist zunächst ressourcen- und zeitintensiv, zahlt sich aber mittel- und langfristig aus.
6. Verhältnis- und verhaltensbezogene Ansätze müssen sich ergänzen! Für mehr Bewegung in der Lebenswelt müssen wir die Bedingungen, Strukturen und Prozesse so gestalten, dass sie ein Mehr an Bewegungsverhalten ermöglichen und nicht behindern - Beispiele dafür sind attraktive Treppen, sichere Radwege, Fitness- und Spielplätze sowie gesundheitsförderliche Gruppenangebote unter Anleitung kompetenter Übungsleiter in Turn- und Sportvereinen.
7. Zielgruppenorientierung ist umzusetzen! Die Bewegungsförderung muss Wege finden, insbesondere schwer erreichbare Personen zu beteiligen. Stärker als bisher sollte die Bewegungsförderung deshalb mit differenzierten Strategien auf die Ziele und die Bedürfnisse besonderer Zielgruppen abgestimmt sein.
8. Konzepte sollten partizipativ sein und Selbstbefähigung fördern! Es bedarf der Einbindung der jeweiligen Zielgruppe, damit Bewegungsförderung erfolgreich und langfristig umgesetzt werden kann. Strategien müssen differenzierte Zielgruppen ansprechen und von diesen angenommen werden. Nur so gelingt es, Menschen zu befähigen, eigenständig Bewegung in den Lebensalltag zu integrieren und diesen gesundheitsförderlich zu gestalten.
9. Neue Medien und Technologien bieten Chancen und bergen Risiken! Für eine effektive Bewegungsförderung - auch bei bisher schwer erreichbaren Zielgruppen - bieten neue Medien und Technologien potenziell Chancen. Allerdings bedarf es der Entwicklung von Qualitätsstandards der angebotenen Maßnahmen und es gilt insbesondere, den Schutz der Privatsphäre zu berücksichtigen.
10. Qualitätssicherung ist unverzichtbar! Maßnahmen zur Bewegungsförderung müssen an wissenschaftlich abgesicherten Zielen und Qualitätskriterien orientiert sein, bedürfen einer kontinuierlichen Evaluation und einer permanenter Weiterentwicklung.
Unterzeichner:
Klaus Bös (Karlsruher Institut für Technologie), Walter Brehm (Deutscher Turner Bund), Gesine Grande (Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur, Leipzig), Markolf Hanefeld (Studienzentrum Metabolisch-Vaskuläre Medizin, TU Dresden), Hans Hauner (TU München), Marianne Koch (München), Cynthia Milz (Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände), Klaus Pfeifer (Universität Nürnberg-Erlangen), Alfred Rütten (Universität Nürnberg-Erlangen), Petra Wagner (Universität Leipzig)
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