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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel "Mittelbayerische Zeitung" (Regensburg) zu Wahlrecht

Regensburg (ots)

Das soll es in Deutschland geben? Eine Regierung kommt ins Amt, obwohl sie bei den Wahlen weniger Stimmen erhalten hat, als die Opposition. Auch wenn es unwahrscheinlich klingt: Bei uns ist das möglich. Nach dem geltenden Wahlrecht kann es passieren, dass durch Überhangmandate eine Minderheit der Wähler für eine Mehrheit der Mandate im Deutschen Bundestag ausreicht. Ein Wahlrechtsexkurs kann dies erklären. Bei der Bundestagswahl hat der Wähler zwei Stimmen, eine für einen regionalen Wahlkreiskandidaten, eine zweite für die Landesliste der Parteien. In der Schule lernt man, dass die zweite Stimme wahlentscheidend ist, denn sie entscheide gemäß der erreichten Prozentzahl über die Zusammensetzung des Parlaments. Der Haken dabei: Erobert eine Partei in einem Land mehr Direktmandate als ihr nach den Zweitstimmen eigentlich zustehen, bleiben diese Mandate der Partei erhalten. Im jetzigen Bundestag verfügt die Union über 24 dieser Überhangmandate (21 von der CDU, 3 von der CSU). 1998 profitierte die SPD von der Regelung. Sie holte 13 Überhangmandate. Beide Male wurde aber der Wählerwille letztlich nicht total verfälscht. 1998 besaß rot-grün auch eine Stimmenmehrheit, 2009 schwarz-gelb. Damals erleichterten aber diese Überhangmandate Gerhard Schröder das Regieren, heute gilt dies für Angela Merkel. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil im Jahr 2008 das geltende Wahlrecht beanstandet. Es kritisierte vor allem einen weiteren Auswuchs des Systems, das sogenannte negative Stimmengewicht. Es kann theoretisch sogar passieren, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Mandatsverlust insgesamt führt. Bis 2011 muss der Bundestag sich nun zu einer Reform des Wahlrechts durchringen, aber bisher ist keine Einigung in Sicht. In der alten Bundesrepublik vor 1990 war das Problem nicht so brisant. Damals gab es mit CDU/CSU und SPD zwei Volksparteien, die wirklich noch groß waren. Das führte in der Praxis dazu, dass kaum Überhangmandate entstanden. Das änderte sich mit den Beitritt der neuen Länder und mit der schwindenden Größe der Volksparteien. In einem Dreiparteiensystem aus CDU, SPD und der Linken kann es schnell passieren, dass eine Stärke von gut 30 Prozent ausreicht, um alle Direktmandate in einem Bundesland zu erobern. Andererseits konnte die CSU 2009 in Bayern angesichts der Schwäche der SPD und dem Antreten mehrerer "kleiner" Parteien wieder alle Direktmandate erobern, obwohl sie an Zweitstimmen nur mehr 42,5 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Die politische Entwicklung lässt zur Zeit vermuten, dass sich solche Ungleichgewichte bei kommenden Wahlen noch verstärken. Eine Wahlrechtsreform tut daher not. Es spricht nicht für die Parteien, dass sie sich bisher nicht einigen konnten. Zur Zeit profitiert die noch relativ starke Union von den Vorteilen des geltenden Rechts, sie kann auf viele Überhangmandate hoffen. Doch das ist kurzfristig gedacht, denn Stimmungen können sich ändern und letztlich kann auch die Union wieder ins Hintertreffen geraten. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, in welche Rechtfertigungsnöte eine Regierung ohne wirkliche Wählermehrheit kommen kann. Viele Bürger würden sich enttäuscht abwenden, wenn sie glauben müssten, der Wählerwille würde verfälscht. Handfeste Reformen könnte eine solche Regierung wahrscheinlich gar nicht mehr anpacken. Die Politik sollte sich daher zu einer schnellen Reform durchringen, notfalls auch um den Preis einer Aufblähung des Bundestags. Mit sogenannten Ausgleichsmandaten kann dafür gesorgt werden, dass sich der Wählerwille immer auch in der Zusammensetzung des Parlaments prozentual widerspiegelt. Diese Mehrkosten für ein Parlament sind allemal leichter zu begründen als eine Missachtung des Bürgerwillens durch ein ungerechtes Wahlrecht.

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