Mittelbayerische Zeitung: Das Ende der Tragödie Leitartikel zum G20-Gipfel in Cannes
Regensburg (ots)
Es ist tatsächlich eine griechische Tragödie, die wir erleben; und das nicht nur, weil der Name passend ist. Die Europäische Union als Gesamtkonstrukt und der Euroraum im Speziellen sowie seine Einzelstaaten durchleben derzeit fast fahrplanartig alle Stufen dessen, was Aristoteles in der Antike als Grundlage der Tragödie festgelegt hat. Ein ethisch guter Charakter, heißt es dort sinngemäß, erlebt einen Fall vom Glück ins Unglück - wegen eines Irrtums, der aus dem fehlenden Wissen über eine Situation resultiert. Noch Fragen? Noch schöner wird es, wenn man sich den Zweck der Tragödie bei Aristoteles ansieht: Durch die Handlung soll "Jammern und Schaudern" ausgelöst werden, um am Ende zu einer "Reinigung" zu gelangen. Das Jammern und Schaudern sehen wir jetzt jeden Tag. Fragt sich nur, wie die Reinigung aussehen wird. Klar ist, dass am Ende eine neue EU dabei herauskommen muss. Das Problem bislang ist allerdings, dass immer noch nicht die richtigen Schlüsse aus den ersten Akten der Tragödie gezogen wurden. Die lauten nämlich: Europa hat versagt. Bei aller Regulierungswut von Glühbirne bis Metzgereiverordnung, bei allen wasserkopfartig angeschwollenen Institutionen mit ihren babylonisch anmutenden Bürokratien und den damit verbundenen Kosten, war es unfähig, die Krise erstens zu erkennen. Und sie zweitens übergreifend, kompetent, effizient und vor allem schnell zu bekämpfen. Es waren nicht Brüssel und Straßburg, die handelten. Es waren Berlin und Paris. Und, nicht zu vergessen, Lissabon, Madrid, Rom und Athen. Dass dem so ist, liegt am fundamentalen Konstruktionsfehler dieser EU: Sie ist bei allen Vergemeinschaftungsbemühungen ein Büro für allgemeine Verwaltungsaufgaben geblieben. Das Agieren übernahmen weiterhin die nationalen Regierungen. Wenn die EU etwas entschied, war es oft unangenehm und die Staaten wiesen schnell die Schuld weit von sich. Das alles hat einigermaßen reibungslos funktioniert, weil bislang noch keine existenzbedrohenden Ereignisse aufgetreten sind. Wenn jetzt aber offen auf höchster Ebene über den Ausstieg Griechenlands aus dem Euro diskutiert wird, ist das nichts anderes als das Eingestehen des eigenen Versagens. Die EU steht jetzt an einem Scheideweg. Sie muss klar sagen, wohin die Reise geht. Und da gibt es nur zwei Richtungen: Die eine führt zurück zu einer losen Verknüpfung von Einzelstaaten, wahrscheinlich sogar ohne gemeinsame Währung. Die andere führt in die Vereinigten Staaten von Europa, wenngleich der Name anders lauten wird. Es ist irrsinnig zu glauben, dass 27 oder mehr Staaten miteinander leben und arbeiten können, wobei 17 von ihnen noch dazu eine gemeinsame Währung haben, wenn eine Kanzlerin oder ein Präsident in ihrer Entscheidungsfähigkeit auf europäischer Ebene in jedem Punkt abhängig sind von nationalen Befindlichkeiten - während in Brüssel und mehr noch in Straßburg Repräsentanten eben jener Nationen tatenlos zusehen müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat Berlin vorgeschrieben, dass europäische Entscheidungen der Zustimmung des Bundestags bedürfen. Was hierzulande als Erfolg des Parlamentarismus gefeiert wurde - die nationale Mitbestimmung - wurde Griechenland vorgeworfen. Europa wird auch künftig machtlos gegenüber Krisen sein, wenn es weiter seinem bisherigen Motto folgt: Wenn es gut läuft, machen wir es zusammen, wenn nicht, entscheidet jeder für sich. Wir brauchen in zukunfts- und existenzentscheidenden Bereichen wie der Wirtschafts- und Finanzpolitik eine gemeinsame Regierungsinstanz; vielleicht sollte sie den bestehenden Strukturen aus Kommission und Parlament übertragen werden. Wir brauchen dazu auch den Mut, die Bürger zu befragen, ob sie das wollen oder nicht. Denn das ist ihr gutes Recht. Die Staaten der EU haben schon viel zu lange mutlos agiert. Und dabei zugelassen, dass keine anderen Themen als die Krise mehr wirklich angegangen werden. Die vielen verpassten Chancen auf dem G20-Gipfel sind dafür nur ein Beleg.
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