Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Marianne Sperb zu Wulff
Regensburg (ots)
Die Feiertage haben Christian Wulff eine Auszeit geschenkt. Das Trommelfeuer der Vorwürfe pausierte. Allerdings dürfte noch bei keiner präsidialen Weihnachtsansprache so hartnäckig und unterschwellig-vorwurfsvoll danach gefragt worden sein, was nicht gesagt wurde. Das ist symptomatisch im Fall Wulff: Hätte der Bundespräsident die eigene Sache thematisiert, hätten Kritiker ihm angekreidet, eine bundesrepublikanische Tradition für eine persönliche Rechtfertigung zu missbrauchen. Man sieht: Christian Wulff kann es derzeit nur falsch machen. Seit die Bild-Zeitung, aus nach wie vor ungeklärten Motiven, den Verdacht platziert hat, der höchste Mann im Staat könnte korrupt sein, läuft gegen Wulff der Prozess. Aufklärungsfuror rollt durchs Land, die Krämerseele hat Auslauf, die Tugendwächter ihren Auftritt. Kaum ein Oppositionspolitiker oder Kommentator, der auf sich hält und nicht bedenkenschwer den Kopf zur Seite legt. Im gouvernantenhaften Ton heißt es: Das tut man nicht, Herr Präsident! Kein Zweifel: Es war dumm, ungeschickt, schädlich und vor allem unnötig, den Hauskredit von Freunden nur unvollständig offen zu legen. Warum hat Wulff die halbe Wahrheit unerschlagen? Das Verschweigen ist eine Vorform der Lüge. Und die Mutter der Lüge ist die Angst. Schauen wir uns die Mutter an: In den vergangenen Jahren hat uns eine Reihe von Fällen gezeigt, wie ein Anfangsverdacht zur vernichtenden Woge anschwellen kann. Dass Christian Wulff auch den Hauch einer Unkorrektheit meiden wollte, weil er Angst hatte vor einer ausufernden Anklagemaschinerie, ist nicht bloß nachvollziehbar, sondern eine Zwangsläufigkeit im herrschenden Klima. Wie perfekt wünschen wir uns unsere Politiker? Wollen wir sie als Unschuldige, im gewissermaßen paradiesischen Zustand, die zwar das Paradies, aber nicht die Welt außerhalb kennen? Oder gehört zur vollständigen Reife einer Persönlichkeit und zum Verständnis der Welt, die eben unperfekt ist, nicht gerade die Erfahrung eigener Fehler? Der Wunsch nach manipulationsresistenten Politikern ist weltfremd, denn: Natürlich ist jeder Mensch verführbar, sei es durch Geld, Glanz oder Schönheit. Die Frage ist also nicht, ob Wulff sich manipulierbar gemacht hat, sondern ob er sein Netzwerk missbraucht hat zum Schaden anderer. Und genau das ist bisher in keinem einzigen Punkt zu erhärten. In der Tat: Das höchste Amt im Staat verlangt besondere Maßstäbe. Wahr ist aber auch, dass sich der Bundespräsident keiner illegalen Handlung schuldig gemacht hat. Christian Wulff wird vorgeworfen, er gebe scheibchenweise Verfehlungen zu. Umgekehrt lässt sich aber auch festhalten, dass die Ankläger stückchenweise ihre Latte höher legen. Erst fordern sie Klarheit über den Hauskredit, dann Details über Urlaube, dann ein persönliches Statement, aber auch wenn diese Erklärung getan ist, "bleiben noch Fragen offen", wie in unheilschwangerem vollem Ton verlautet. Nehmen wir als Beispiel den jüngsten Vorwurf: Die BW-Bank hat Wulff einen Kredit zu Sonderkonditionen gewährt. Ein "unübliches Vorgehen", wie es prompt heißt. Das Gegenteil ist der Fall. Unüblich wäre es, einen Ministerpräsidenten am Schalter wie einen 08/15-Kunden zu behandeln. Als Landeschef besaß Wulff sozusagen ein Triple-A-Rating, eine außergewöhnliche Bonität, und selbstverständlich genießt eine Bank das Prestige, einen Ministerpräsidenten in der Klientel zu haben. Das ist weder schädlich noch unehrenhaft; so funktionieren Geschäfte einfach. Die Kritik an Wulff hat kein wirkliches Ziel. Selbst die Opposition möchte einen Sturz des Bundespräsidenten und die mühsame Suche nach einem Nachfolger vermeiden. Zeit und Energie werden in der Europa-Krise anderweitig gebraucht. Niemand also will Wulffs Rücktritt - aber die Kritiker wollen ihn kleiner machen und sich größer. Wenigstens beschädigt haben wollen sie ihn. Das ist das eigentlich Schmutzige am Fall Wulff. Eine Gesellschaft, in der die Normalität des Handelns abgelöst wird von der Absurdität der Kritik, erzieht sich Politiker, die am Ende ängstlich um äußerste Tadellosigkeit bemüht sind - und darüber zu Tatenlosen werden. Eine Gesellschaft, die glücklich werden will mit den Politikern, die sie gewählt hat, tut gut daran, ihnen Vertrauen zu schenken. Denn zukunftsweisendes, mutiges, freies Sprechen und Handeln entstehen nicht im Klima unkalkulierbaren Verdachts, sondern im angstfreien Raum. Der angstfreie Raum muss aber mutig verteidigt werden. Schade, dass Wulff dieser Mut gefehlt hat.
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