Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu Fußball/EM/Deutschland von Heinz Gläser
Regensburg (ots)
Vorhang auf! Nach all den Debatten über die mangelnde Infrastruktur, über Gewalt im Fußball und über die prekäre politische Situation im Land des Co-Gastgebers Ukraine hat ab heute Abend der Sport das Wort. Das soll jedoch nicht heißen, dass sich über Sinn und Unsinn dieser Kombi-Europameisterschaft im Osten Europas nicht weiterhin trefflich streiten ließe. Letztmals wird das kontinentale Turnier mit 16 Teilnehmerländern ausgespielt. In vier Jahren in Frankreich werden es 24 sein, also fast die Hälfte der 53 Mitglieder der Europä-ischen Fußball-Union Uefa. Die langwierige Qualifikation wird damit mehr oder weniger zur Farce. Ein Fußballplatz mag ja durch Seitenlinien begrenzt sein, der Expansionsdrang der Funktionäre ist jedoch grenzenlos. Sie blähen ihr profitables Format im Sinne der Gewinnmaximierung weiter auf. Das hehre Ziel, den "Kleinen" in Europas Fußball eine größere Bühne zu bieten, wirkt da vorgeschoben. Hier versucht eine Sportart, ihr Beinahe-Monopol in der öffentlichen Wahrnehmung weiter zu zementieren. Im Namen des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) hat dessen Präsident Wolfgang Niersbach signalisiert, dass er diesen Kurs der Uefa nur widerwillig akzeptiert. Der 61-Jährige hat sich in den wenigen Monaten seiner Amtszeit bereits nachhaltig profiliert. Er hebt sich wohltuend ab vom Schwulst und Pathos, die sein Vorgänger Dr. Theo Zwanziger in den letzten Jahren seines Wirkens pflegte. Niersbach arbeitet unaufgeregt, er wirkt sympathisch und gewinnend. Und er leitet in Polen und der Ukraine eine Delegation, deren Auswahl allenthalben zum engen Favoritenkreis gezählt wird. Die Jagd nach dem vierten Stern geht also in die nächste Runde. Jeweils drei Welt- und Europameistertitel haben deutsche Nationalteams bislang errungen. Der letzte Triumph datiert von 1996, und im Fußball-Volk wächst die frohe Erwartung, dass die junge Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw diese Durststrecke beenden wird. Sollte dieses Vorhaben gelingen, wäre das die Spätfolge eines Desasters. Erst nach der sportlich komplett missratenen EURO 2000 in Holland und Belgien professionalisierte der DFB seine Jugendarbeit und trieb die Ausbildung voran. Die Ernte fährt nun Löw ein, dem die Bundesliga immer neue Talente zuführt. Der aktuelle EM-Kader weist eine besondere Qualität und Dichte auf. Mehr noch: Der deutsche Fußball ist attraktiv und wird seit der WM 2010 in Südafrika auch international geschätzt, ja bewundert. Spielerisch braucht sich die DFB-Auswahl vor keiner Mannschaft der Welt mehr zu verstecken. Und sie ist - ganz nebenbei - ein Musterbeispiel für gelungene Integration. All das ist jedoch keine Garantie, dass diese EM-Mission ein glückliches Ende findet. Der Druck ist gewaltig, und im Gegensatz zur forschen WM 2010 geht die Mannschaft mit der Gewissheit in das Turnier, dass von ihr Großes erwartet wird. Löw und sein Team wandeln auf einem schmalen Grat. Das Gros der Auswahl, also die Stars des FC Bayern München, trägt noch schwer an einer Saison voller finaler Enttäuschungen. Und gelingt es, das zweifellos vorhandene Potenzial zur rechten Zeit abzurufen? Nun: Die Antwort wird am 1. Juli beim Finale in Kiew gegeben. Spätestens.
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