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Mittelbayerische Zeitung: Akten-Lotterie

Regensburg (ots)

Von Reinhard Zweigler

Analytische Engführung - dieser bürokratisch gedrechselte Begriff von Noch-Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm war gestern das Wort des Tages. Vor dem Berliner Untersuchungsausschuss bemäntelte der scheidende Geheimdienst-Chef mit diesen kruden Worten das völlige Versagen seines Bundesamtes beim blutigsten Angriff von Rechtsextremisten auf die Gemeinschaft seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Insgesamt zehn Menschen fielen der Zwickauer Terrorzelle zum Opfer. Vor allem Geschäftsleute, die zufällig ausgewählt und kaltblütig erschossen wurden. Auch eine junge Polizistin starb im Kugelhagel der Neonazis, ihr Kollege wurde schwer verletzt. Bei all diesen Morden, die nach dem gleichen Schema abliefen, wollen die Sicherheitsbehörden, Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt und Länderpolizeien keinen Zusammenhang und keine Hinweise auf den rechtsextremen Hintergrund entdeckt haben. Es fällt schwer, das zu glauben. Schlimmer und mysteriöser noch ist es, dass wenige Tage nach der Enttarnung des Killer-Trios ein Verfassungsschützer brisante Akten vernichten ließ. Warum das geschah, konnten gestern weder der betreffende Beamte, noch Präsident Fromm überzeugend klären. Sie konnten mit ihren verquasten Erklärungen oder vielsagendem Schweigen jedenfalls den Verdacht nicht entkräften, dass der Verfassungsschutz auf dem rechten Auge blind ist. Hat man im Kölner Bundesamt wirklich geglaubt, dass die Gefahr für unsere freiheitliche Grundordnung eher von chaotischen Linksextremen als von Rechtsextremen ausgeht, die man im Blick zu haben glaubte? Weitere Klärung ist notwendig. Wieso etwa kann ein Abteilungsleiter so einfach brisante Unterlagen vernichten? Dass die verbeamteten Schlapphüte wirklich Akten nach einer Art Lotterie-Verfahren in den Reißwolf gaben, glauben nicht einmal Milchmädchen. Gab es eine Weisung aus der Präsidenten-Etage? Wurde damit eine tiefere Verstrickung von V-Leuten des Amtes in das rechtsextreme Umfeld des Mörder-Trios vertuscht? Und notwendigerweise ist die Frage nach der politischen Verantwortung zu stellen. Was haben die damaligen Bundesinnenminister Otto Schily und Wolfgang Schäuble gewusst, wann hat der jetzige Minister Hans-Peter Friedrich was erfahren? Es tun sich vor allem zwei Konsequenzen auf: Entweder der Verfassungsschutz führte ein mysteriöses Eigenleben und die verantwortliche Politik wusste nichts davon oder das Bundesinnenministerium wusste Bescheid, tat aber nichts. In beiden Fällen haben wir es nicht nur mit einem skandalösen Versagen des Verfassungsschutzes, sondern auch mit einem Fiasko der politischen Aufsicht zu tun. Das Bauernopfer des Rücktritts von Verfassungsschutz-Präsident Fromm jedenfalls ist kein Beitrag zur Aufhellung der trüben Geheimdienst-Brühe. Es muss weiter und viel tiefer gebohrt werden. Dass Friedrich nun einen eigenen Aufklärer einsetzt, ist ein gutes Zeichen. Dass der Mann jedoch aus dem Berliner Innenministerium kommt, das ohnehin die Dienstaufsicht über den Geheimdienst hat, nährt den Verdacht, hier solle eine Krähe der anderen kein Auge aushacken. Der Verfassungsschutz, dem mit dem Fall der Mauer neue Aufgaben zuwuchsen, etwa der Schutz vor religiösen Extremisten oder vor Wirtschaftsspionage, steckt in seiner tiefsten Krise. Ihn abzuschaffen, wie dies nun von einigen gefordert wird, wäre ein Fehler. Dass er aber grundlegend reformiert gehört, steht außer Frage.

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