Mittelbayerische Zeitung: Die nationale Karte - Der Nationalismus ist zurück. Für Europa ist das ein Warnsignal. Von Christian Kucznierz
Regensburg (ots)
Selten waren die Friedensappelle der Kirchen und der Menschen, die an den Ostermärschen in Deutschland teilnahmen, so angebracht wie in diesem Jahr: 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten und 75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs - und noch dazu in einer Zeit, in der in der Ukraine ein Bürgerkrieg droht. Ganz abgesehen davon, dass in Syrien das Assad-Regime weiter ungehindert mordet und foltert und einer ganzen Generation ihre Zukunft raubt. Die Appelle für Frieden sind auch deswegen umso wichtiger, als sich immer deutlicher zeigt, dass es trotz der Erfahrungen der Weltkriege immer noch möglich ist, Menschen gegeneinander aufzuhetzen, indem man die nationale Karte spielt. Der Nationalismus in Europa war nie verschwunden. Er manifestierte sich in den Unabhängigkeitsbestrebungen des Baskenlandes oder Südtirols. Er zeigte sein gesamtes brutales Potenzial in den Balkankriegen der 1990er. In Herbst dieses Jahres wird in Schottland darüber abgestimmt, ob die Menschen dort Teil des Vereinigten Königreiches bleiben wollen oder ihre Zukunft in einem unabhängigen Staat sehen. Aktuell zeigt der Konflikt in der Ukraine, wie stark nationalistische Tendenzen sein können: Sie drohen ein Land zu zerreißen oder zumindest für unbestimmte Zeit in die politische Handlungsfähigkeit zu stoßen. Die Re-Nationalisierungstendenzen lassen sich aber auch ohne große oder schwelende Konflikte erkennen: bei der anstehenden Europawahl. Kaum ein Thema treibt die Volksparteien so um wie ein möglicher Erfolg der Parteien am rechten Rand - umso mehr, da das Verfassungsgericht in Karlsruhe die Drei-Prozent-Hürde gekippt hat. Die Forderungen der Rechten sind dabei vor allem anti-europäisch. Sie verlangen, wie die AfD, eine Abkehr von der Gemeinschaftswährung. Sie wollen Kompetenzen aus Brüssel zurück in die Mitgliedsstaaten verlagern. Im Rennen um die Wählerstimmen und aus berechtigter Angst vor einer Zerfaserung des Europaparlaments an den Rändern laufen die Volksparteien den Rechten hinterher. Man kann argumentieren, dass nicht alles, was möglich ist, in Brüssel entschieden werden muss. Dass sehr wohl die Mitgliedsstaaten selbst am besten wissen, was für ihre Bürger richtig und sinnvoll ist. Spinnt man diesen Gedanken weiter, bedeutet er aber nichts anderes als das Ende der europäischen Idee als solcher. Sie entstand aus der Erfahrung dessen, was geschehen kann, wenn übersteigerte nationale Interessen miteinander kollidieren. Europa war über Jahrhunderte definiert durch das Aufeinanderprallen verschiedener Machtinteressen. Die Europäische Gemeinschaft und später die Europäische Union sollte genau das verhindern helfen. Und das tat und tut sie bis heute. Die Beschlüsse von Genf, mit denen der Konflikt in der Ukraine entschärft werden soll, ist auch ein Erfolg der EU, die mit am Tisch saß. Wer heute, 100 Jahre nach der "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts, die nationale Karte einsetzt, spielt mit dem Feuer. Dazu braucht es nur einen Blick in die Ostukraine und auf die teilweise hysterisch geführte Debatte darüber, ob der Westen und die westlichen Medien am Ende Kriegspropaganda betreiben. Wer in Europa gegen Minderheiten hetzt, gegen Brüssel schimpft und eine weitergehende europäische Einigung infrage stellt oder boykottiert, betreibt eine rückwärtsgerichtete Politik. Wenn die Menschen in Europa eines gelernt haben sollten, dann dass ihre Zukunft nicht in der Kleinstaaterei und der Re-Nationalisierung liegen kann. In einer globalisierten Welt mögen nationale Befindlichkeiten ein wärmendes Feuer sein, an dem man seine Ängste beruhigt und seinen nostalgischen Gefühlen nachhängt. Nationale Befindlichkeiten sind aber auch Brandbeschleuniger, die von anderen Staaten leicht für ihre Zwecke instrumentalisiert werden können.
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