Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Manfred Sauerer zu Jahreswechsel/Deutschlands Vorsätzen für 2015
Regensburg (ots)
Deutschlands "Top 10" der guten Vorsätze für 2015 lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Zum einen will der Bürger mehr Zeit für sich und seine sozialen Kontakte, also Freunde treffen, bei der Familie sein, weniger fernsehen und online sein. Zum anderen will er gesünder leben, also Stress vermeiden, mehr Sport machen, abnehmen, weniger Alkohol. Gemeinsam sind diesen Vorsätzen eine gewisse Selbstbezogenheit und die Tatsache, dass deren Umsetzung nicht gerade superschwer ist. Dennoch werden die meisten scheitern. Stellt man sich Deutschland als Menschen vor, was wäre er angesichts solcher Vorhaben für ein Typ? Möchte man sich mit ihm identifizieren? Er sieht seinen Zeit- und Bewegungsmangel als Hauptproblem, verbunden mit einem Übermaß von Nahrungs- und Unterhaltungskonsum. Das kommt reichlich oberflächlich daher. Für die Probleme anderer scheint da nicht viel Raum zu bleiben im Lebensentwurf dieser Person. Empathie, das Einfühlungsvermögen in andere Menschen? Fehlanzeige! Ganz zu schweigen von Zivilcourage, wenn man einschreiten müsste gegen jene, die andere belästigen oder ungerecht behandeln, die gewalttätig werden, die intolerant und hasserfüllt sind. Kann sein, dass Deutschland aus einem internationalen Blickwinkel heraus durchaus so gesehen wird: Strebsam, diszipliniert, zum Selbstmitleid neigend, bisweilen ein wenig feige. Wenn es heikel wird, schaut man lieber weg. Die Deutschen sind mehr mit sich selbst beschäftigt. Gute Ratschläge werden gern gegeben, aber lieber aus sicherer Distanz. Und wenn sie sich dann etwas wünschen dürfen, dann wünschen sie sich Zeit und Gesundheit. Aber auch das meinen sie nicht wirklich ernst, denn sie werden weitermachen wie bisher. Zumindest fast, denn immerhin ist von den neu im Arbeitsleben ankommenden Deutschen vermehrt die Forderung nach einer vernünftigen Zeitbalance zwischen Privatleben und Job zu vernehmen. Zurück zu den guten Vorsätzen für 2015: Keine Spur von Zivilcourage, Toleranz und Empathie; oder etwas mehr Besonnenheit vor dem Hintergrund all der Aufgeregtheiten, die geschäftige Betroffenheitsfanatiker Tag für Tag formulieren. Dabei hat uns das abgelaufene Jahr reichlich Anschauungsunterricht gegeben. Allen voran der Fall Tugçe. Die junge Frau wollte in Offenbach zwei Mädchen vor Nachstellungen schützen. Sie wurde geschlagen, stürzte und starb. Am Ende war das ganze Land einig: Es war richtig, das sie sich eingemischt hat. Keiner sagte laut, dass sie sich doch lieber heraushalten hätte sollen. Ähnliche, wenn auch Gott sei Dank nicht solch folgenreiche Beispiele geben all diejenigen, die sich Neonazis in den Weg stellen, die sich gegen Fremdenfeindlichkeit und für Gastfreundschaft einsetzen. Und nicht zuletzt diejenigen, die sich für das Schicksal anderer Menschen interessieren und helfen wollen. Meist dauert es etwas länger, bis sich Dinge in der Gesellschaft ändern. Wer sich nicht einschüchtern lässt, wer offen gegen scheinbar übermächtige Gegner für eine Sache kämpft, verliert zwar oft die erste Runde. Aber langfristig macht sich der Einsatz bezahlt. Viele heute selbstverständliche Errungenschaften gerade in Deutschland sind auf den Mut von Veränderungspionieren zurückzuführen, die zu ihrer Zeit noch als verblendet oder verirrt abgestempelt waren. Wir dürfen also darauf hoffen, dass Eigenschaften, wie sie Tugçe hatte, wie sie zahllose engagierte und mutige Bürger haben, künftig in den "Top 10" der guten Vorsätze landen. Es würde uns gut tun, mehr Verantwortung zu übernehmen, mutig statt feige zu sein. Und die Identifikation mit dieser "Person" Deutschland fiele uns leichter.
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