Mittelbayerische Zeitung: Völker wandern
Die aktuelle Migrationsbewegung ist nicht Bedrohung, sondern Chance - wenn man sie richtig gestaltet. Leitartikel von Martin Anton
Regensburg (ots)
Andreas Scheuer hat einen undankbaren Job. In regelmäßigen Abständen muss der CSU-Generalsekretär provokante Sätze im Stammtisch-Duktus absondern, um als Parteikläffer die gesellschaftliche Stimmung wahlweise zu testen oder anzuheizen. Gerade in der Flüchtlingsdebatte ein beliebtes System. Und so darf Scheuer von einer "neuzeitlichen Völkerwanderung" reden. Und hat damit ausnahmsweise einmal Recht. Natürlich wollte Scheuer mit seiner Wortwahl eine Bedrohung an die Wand malen, die gestoppt werden muss - etwa durch Asylzentren in Nordafrika und einer Art automatische Asylablehnung für Menschen vom Balkan. Doch ebenso wenig wie bei der historischen "Völkerwanderung" die Vertreibung ganzer "Völker" durch andere erfolgte, ist die deutsche oder europäische Gesellschaft derzeit von Einwanderern bedroht. Klar ist: Das Land, die Gemeinschaft in der wir leben, wird sich verändern, wie sie es seit Jahrhunderten tut - Völker wandern schon immer. Ebenso klar sollte Scheuer bei seinem Vergleich aber vor allem sein: Eine Migrationsbewegung lässt sich nicht aufhalten. Der Versuch ist selbstzerstörerisch. Scheuers Wortwahl drückt gleichzeitig aus, dass a) eine Migrationsbewegung dieser Größenordnung keiner Voraussehen hätte können und b) die bayerische Landesregierung bei so einem historischen Ausmaß nun wirklich der falsche Ansprechpartner ist - das muss Brüssel regeln! Sicherlich ist eine gesamteuropäische Flüchtlingspolitik notwendig. Doch will der Generalsekretär mit seiner Forderung vor allem davon ablenken, dass auch die CSU-Regierung, es versäumt hat, sich auf die Auswirkungen globaler Konflikte und wirtschaftlicher Ungleichheit vorzubereiten. Als im November vergangenen Jahres die Neuankünfte von Flüchtlingen zurückging, die Zustände in den Erstaufnahmeeinrichtungen sich normalisierten und ein Notfallplan erdacht war, galt das Thema als erledigt. Von möglicherweise andauernd wachsenden Flüchtlingszahlen und den damit einhergehenden Anforderungen wollte niemand etwas wissen. Die aktualisierten Zahlen sind zugegebenermaßen höher, als viele es sich hätten vorstellen können. Doch unvorstellbar waren solche Szenarien nie. Thomas de Maizière hat recht, wenn er sagt: Wir können das verkraften. Doch dazu sind verschiedene Anstrengungen nötig. Zunächst einmal müsste kein Flüchtling in einem Zelt oder einer Baracke schlafen, es gibt genug Leerstand in Deutschland. Die Pflicht, in Gemeinschaftsunterkünften zu schlafen ist hinderlich bei der Unterbringung. Außerdem muss es für diejenigen, die bereits Familienmitglieder in Deutschland haben, einfacher sein, zu diesen zu ziehen, statt in einem anderen Bundesland festzusitzen. Grundsätzlich geht es darum, den Menschen schneller zur Eigenständigkeit zu verhelfen, sie aus der Opferrolle zu lösen. Dazu gehört die Möglichkeit zu arbeiten, Auto zu fahren und deutsch zu lernen. All das sind Aufgaben der Politik. Trotzdem ist das zivilgesellschaftliche Engagement, welches in den vergangenen Monaten häufig dort wirkte, wo Institutionen versagten, weiterhin wichtig. Jeder kann bei den Kommunen, christlichen Einrichtungen und Bürgerinitiativen erfragen, was für Hilfe benötigt wird. In den Sozialen Netzwerken werden unter #WelcomeChallenge Helfer gesucht. Im Kontakt miteinander verschwinden Vorurteile schneller. Am Ende geht es auch um die Betrachtungsweise. So lange die Politik die Flüchtlinge als Problem hinstellt, das gelöst werden muss, ist jeder Neuankömmling eine Bürde. Doch es geht weniger darum, etwas "zu verkraften" als zu gestalten. Denn die "Völkerwanderung" ist keine temporäre Erscheinung. Der Klimawandel und daraus resultierende Konflikte werden künftig noch mehr Menschen dazu veranlassen, ihre Heimat zu verlassen. Wir sollten darauf vorbereitet sein.
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