Mittelbayerische Zeitung: Die Macht des Faktischen
In der Flüchtlingsdebatte haben die Menschen der Politik einiges voraus. Und das ist gut so. Leitartikel von Christian Kucznierz
Regensburg (ots)
Es gibt gute und schlechte Zeiten für Bierzeltveranstaltungen. Die guten sind die in den Jahren, in denen gewählt wird. Die schlechten sind die, in denen es nichts zu gewinnen gibt. Und dann gibt es noch die ganz schlechten, wenn es eben keine Wahlen gibt und am Vorabend auch noch etwas beschlossen wurde, dass grundsätzlich gut ist. Der gestrige politische Frühschoppen auf dem Gillamoos war in dieser Hinsicht ein ganz schlechter Tag. Aber in diesem speziellen Fall ist das etwas sehr Erfreuliches. Die Spitzen der großen Koalition haben in der Nacht zum Montag Maßnahmen beschlossen, mit denen sie auf die zunehmende Zahl von Flüchtlingen reagieren wollen. Mehr Geld, schnellere Asylverfahren und mehr Sachbearbeiter und Beamte, lauten die Schlagwörter. Sowohl Union als auch SPD können für sich behaupten, Erfolge erzielt zu haben. Wenn auch vieles noch in der Umsetzung unklar ist: Die große Koalition hat etwas Großes vollbracht. Sie hat Antworten auf die drängendste Frage dieser Zeit gegeben: Wie geht Deutschland mit der steigenden Zahl von Flüchtlingen um? Damit hat sie einen politischen Grundkonflikt der letzten Wochen entschärft. Und weil an dieser Einigung eben auch CSU und SPD beteiligt waren, ist für eine Veranstaltung wie den politischen Frühschoppen die Luft erst einmal raus. Selbst die bayerische Regierungspartei gab sich in Person von Finanzminister Markus Söder am Montag zurückhaltender als zuletzt. Und das ist gut so. Zumal die Realität die politische Debatte überholt hat. Es ist nämlich nicht so, dass die steigende Zahl von Asylbewerbern, die nach Deutschland kommt, eine Zunahme von Fremdenfeindlichkeit zur Folge hat. Es ist eher so, dass eine Zunahme von Hass, Hetze und rassistischen Übergriffen eine Welle der Solidarität ausgelöst hat. Wer sich die Bilder von unzähligen Menschen etwa in München ansieht, die freiwillig Flüchtlingen bei der Ankunft helfen, die Kindern Stofftiere und Spielzeug schenken, die Plakate malen, auf denen "Welcome to Germany" steht, kann kaum glauben, dass er sich im selben Land befindet, in dem zuletzt Flüchtlinge beschimpft und bedroht wurden. Ja, es stimmt: Es hat erst der Gewalt und der Bilder von qualvoll gestorbenen Flüchtlingen und deren Kinder bedurft, damit die schweigende Mehrheit ihr Schweigen beendet. Aber zumindest ist die Stille beendet, die Naziparolen-Krakeeler und Ja-aber-Rassisten zu füllen wussten. Doch dieser Zustand wird nicht ewig anhalten. Das Maßnahmenpaket der Bundesregierung, wenn es denn die noch anstehenden Hürden nimmt, kann helfen, die Welle der Solidarität am Laufen zu halten. Weil die Beschlüsse eventuell falsche Anreize, nach Deutschland zu kommen, beenden. Weil das Paket helfen könnte, diejenigen, die kein Anrecht auf Asyl haben, schneller zurückzuschicken. Weil es generell die Verfahren beschleunigt und das Warten verkürzt und damit Platz schafft in den überfüllten Aufnahmeeinrichtungen. Weil es den überforderten Kommunen hilft. Aber das reicht nicht. Es muss nun darum gehen, international abgestimmt die Fluchtursachen zu bekämpfen. Es muss auch darum gehen, in Europa das umzusetzen, was in der Euro-Schuldenkrise lange nicht hinterfragt wurde: eine Verteilung der Lasten auf alle Mitgliedsstaaten. Europa, das zur Rettung seiner Währung alle Regeln zu brechen bereit war, versagt angesichts der Flüchtlingskrise. Die Einigung der Koalition kann daher nur ein erster Schritt sein hin zu einer europa- und eigentlich auch weltweit koordinierten Hilfe für Menschen, die ihre Zukunft in der Ferne suchen müssen.
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