Mittelbayerische Zeitung: Diplomat mit festem Kurs
Einen überzeugten Europäer wie Hans-Dietrich Genscher sucht man unter den derzeitigen Politikern vergebens. Leitartikel von Reinhard Zweigler
Regensburg (ots)
Nicht vielen Politikern ist es vergönnt, die Krönung ihres Lebenswerkes auch mitzuerleben. Dem vorgestern verstorbenen Hans-Dietrich Genscher war dieses Glück vergönnt. Jahrzehntelang hat der im kleinen Dörfchen Reideburg bei Halle an der Saale geborene Liberale auf die Überwindung der deutschen Teilung hingearbeitet. Auch während Mauer und Stacheldraht unser Vaterland zerschnitten, ließ er seine Kontakte in den anderen Teil Deutschlands nie abreißen. An der friedlichen Revolution in der DDR und der folgenden Wiedervereinigung Deutschlands hat Genscher einen gehörigen Anteil. Unvergessen sind seine diplomatischen Bemühungen um die Freilassung der Botschaftsflüchtlinge im Herbst 1989 in Warschau und Prag. Sein Auftritt im Palais Lobkowitz in der tschechoslowakischen Hauptstadt zählt zu den bleibenden Bildern in den Annalen. Genschers "Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Ausreise..." ist wohl der berühmteste unvollendete Satz der deutschen Geschichte. Das bleibt. Vergleichbar etwa mit dem Kniefall von Willy Brandt in Warschau. Hans-Dietrich Genscher hat das politische Bild Deutschlands über Jahrzehnte maßgeblich mitgeprägt, sowohl im Inland als auch bei den ausländischen Partnern, den nordatlantischen Verbündeten oder den sowjetischen und osteuropäischen Gegnern im Kalten Krieg. Vielleicht war es auch die unmittelbare Erfahrung mit dem Kommunismus in seiner Heimat, die Genscher zu einem beharrlichen Diplomaten und Streiter für die Freiheit werden ließen. Getreu dem Motto: Freiheit ist nicht alles, aber ohne Freiheit ist alles nichts. Sein politischer Weg führte den jungen Anwalt Genscher fast zwangsläufig in die FDP, weil er hier sein Ideal des freien, selbstbestimmten Menschen in einer freien Gesellschaft am besten vertreten sah. Aus Überzeugung bereitete er die sozial-liberale Koalition mit der SPD 1969 mit vor, die mit der, damals heftig umstrittenen, neuen Ostpolitik den "Wandel durch Annäherung" vollzog. Ebenso aus Überzeugung betrieb Genscher später die "Wende" hin zu einer Koalition mit Helmut Kohl, die ganze 16 Jahre Bestand haben sollte. "Genscherismus" ist für die einen ein Schimpfwort, das für Prinzipienlosigkeit und Machtversessenheit stehen soll. Dabei war Genschers Politikstil als Außenamtschef immer auf eine aktive Entspannung zwischen den Blöcken gerichtet. Seine Reisediplomatie war sprichtwörtlich. Durch zahllose Verhandlungen sorgte er mit dafür, dass sich die Gegner des Kalten Krieges in Helsinki auf Regeln des friedlichen Zusammenlebens und auf Menschenrechte einigten. Nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Bundespolitik blieb der Liberale ein gefragter Ratgeber, eine weise Eminenz im Hintergrund und ein Strippenzieher in der FDP, ohne dessen Votum keine wichtigen Entscheidungen gefällt wurden. Guido Westerwelle war sein politischer Ziehsohn. Zuletzt distanzierte sich Genscher in scharfen Worten von den Attacken Seehofers gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Es sei ihm lieber, die Flüchtlinge würden unbürokratisch reingelassen, als dass man sie bürokratisch verhungern ließe. Gegen den Rauswurf Griechenlands aus dem Euro, der auch in der FDP populär war, wetterte Genscher, wenn man an einer Stelle beginne, Europa aufzulösen, gehe es immer weiter. Einen überzeugten Europäer mit Gewicht und Verhandlungsgeschick wie Hans-Dietrich Genscher sucht man unter den derzeitigen deutschen und europäischen Politikern leider vergebens.
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