Mittelbayerische Zeitung: Kitsch und Kommerz
Zur Wiesn gehören auch jene Besucher mit pinkfarbenem Polyester-Minidirndl und gelben Lederhosen.
Regensburg (ots)
Auf den Bänken werden sie wahrscheinlich wieder stehen, die Australierinnen im pinkfarbenen Polyesterdirndl, die gelbe, knöchellange Lederhose des Besuchers aus Berlin wird meterweit leuchten, die Kapelle im Bierzelt wird AC/DCs "Highway to Hell" spielen, Sinatras "New York, New York" und Helene Fischers "Atemlos". Der Krug auf dem Tisch wird rosa sein, die Schmankerlbuden vor den Zelten werden Frozen Yoghurt und Fruchtsäfte anbieten: Natürlich lässt sich noch nicht vorhersagen, wie das Oktoberfest 2016, das an diesem Sonntag beginnt, werden wird. Sicher ist aber schon jetzt: Es wird wieder ein sehr modernes Volksfest. Zu modern für manchen: Die Wiesn war schon immer Projektionsfläche für all jene, die die bayerischen Traditionen dem Untergang nah wähnen und sich überrumpelt fühlen von Wiesnfasching, Kitsch und Kommerz. Dabei, und das ist das Spannungsfeld, in dem sich die Wiesnbeobachter und -kommentatoren in jedem Jahr bewegen, ist dieses größte aller bayerischen Volksfeste längst zum globalen Vermarkter der traditionellen bayerischen Lebenskultur geworden. In all ihren Facetten: Von der vielgelobten Bier-und-Hendl-Gemütlichkeit bis zur heimatverbundenen Weltoffenheit mit Laptop und Lederhose. Das Dirndl, das für viele Wiesnbesucher auch aus dem befreundeten Ausland von Wiesbaden bis Tokio zum Oktoberfestbesuch zu gehören scheint wie das Abendkleid zur Soiree - obschon es eigentlich jahrzehntelang nur eine Option unter vielen war -, ist Sinnbild des gewaltigen Spagats in der Deutungshoheit über das weltgrößte Volksfest. Der Trend, sich auch als Nicht-Alpenbewohner im Dirndl auf der Wiesn zu zeigen, begann wohl um die Jahrtausendwende. Damals interpretierten Beobachter das neue Massenphänomen ganz im Sinne der Retro- und Nostalgiewelle, der Rückbesinnung auf Heimat und Natur in einer sich immer schneller verändernden, technisierten Welt. Dann verselbständigte sich die Mode, Designer und Modeketten lieferten ihre Neuinterpretationen alpenländischer Trachten, neonfarbene Bling-Bling-kompatible Dirndl in Minirockkürze eroberten die Bierzelte und strapazierten Geduld und Sehnerven nicht nur der traditionsbewussten Münchner. Paradoxe Folge: Die Wiesntouristen (und nicht nur diese!) entfernten sich bewusst oder unbewusst immer weiter von jenen vermeintlichen Traditionen, an die sie sich doch eigentlich anpassen wollten. Ähnlich vielleicht wie heute der Frozen Yoghurt und die Fruchtsaftstände hätten sie so eigentlich wie Fremdkörper auf der Wiesn wirken müssen. Und wurden doch ganz selbstverständlich Teil des Ganzen. Dann kam der Umschwung, wer heute etwas auf sich hält, greift zu gedeckten Tönen und traditionell geschnittenen Gewändern. Es ist so etwas wie der der Retro-Trend im Retro-Trend, der sich nicht nur in der Mode zeigt: Nicht zufällig gibt es seit 2010 mit der Oidn Wiesn ein sehr beliebtes Kontrastprogramm zum modernen Wiesnspektakel - ruhig, familienfreundlich, mit altertümlichen Fahrgeschäften und einem historische Festzelt. Tradition bedeutet letztlich nichts anderes, als dass Verhaltensweisen, Ideen oder Bräuche über Generationen weitergegeben werden. Dass sie dabei auch weiterentwickelt werden, ist nicht ausgeschlossen. Das gilt ganz besonders für das Brauchtum, dessen Sinn und Zweck per Definition immer auch der Erhalt des Zusammenhaltes einer Gruppe ist. Und das Besondere des Oktoberfestes war schon immer, dass es Menschen zusammenfinden lässt. Auch jene mit pinkfarbenem Polyester-Minidirndl und gelben Lederhosen.
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