Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Katia Meyer-Tien zum Fall Peggy/NSU
Regensburg (ots)
Es sind nur Indizien, die darauf hindeuten, aber schon die machen fassungslos: Kann es wirklich möglich sein, dass es zwischen zwei der unbegreiflichsten Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte einen Zusammenhang gibt? Kann es sein, dass die mutmaßlichen NSU-Terroristen jahrelang unentdeckt von deutschen Ermittlern nicht nur brutal und rassistisch mordeten, raubten und bombten, sondern auch noch in mindestens einen Fall von Kindesmissbrauch und -mord verwickelt waren? Allein die Tatsache, dass diese Fragen gestellt werden (und dass sie gestellt werden müssen), wirft ein mehr als ungutes Licht auf die deutschen Ermittlungsbehörden. Schon wieder. Zur Erinnerung: Schon der Umstand, dass das NSU-Trio 1998 aus dem Radar der Ermittler verschwinden konnte, nachdem in seiner Jenaer Garage vier Rohrbomben mit insgesamt 1,4 Kilo TNT nebst rechtsextremer Schriften gefunden wurden, warf und wirft Fragen auf. Die Frage, ob, wie und warum Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos dann in den folgenden Jahren zehn Menschen töten, mehrere Sprengstoffanschläge und eine Vielzahl von Raubüberfällen verüben konnten; das Behördenversagen auf allen Ebenen und die Vernichtung von Akten und Beweismaterial beschäftigen bis heute nicht nur das Münchner Oberlandesgericht, sondern auch mehrere Untersuchungsausschüsse. Auch im Fall Peggy gibt es zu viele Ungereimtheiten. Allen voran die inzwischen aufgehobene, falsche Verurteilung des geistig behinderten Ulvi K., aber auch die vielen Zeugenaussagen, die das Mädchen noch nach dem von der Polizei angenommenen Verschwinden nach Schulschluss gesehen haben wollen, möglicherweise sogar beim Einsteigen in ein rotes Auto. Das NSU-Trio wohnte zum Zeitpunkt von Peggys Verschwinden weniger als 100 Kilometer entfernt. Auf dem Computer der drei wurde kinderpornografisches Material gefunden, in ihrem Wohnwagen Spielzeug und eine Kindersandale. Tino Brandt, guter Bekannter und mutmaßlicher Unterstützer des Trios, sitzt wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger in 66 Fällen im Gefängnis. Uwe Böhnhardt selbst stand schon 1993 einmal im Verdacht, an einem Kindesmord in Jena beteiligt gewesen zu sein. Und nun: ausgerechnet seine DNA am Fundort von Peggys Leiche. All das kann Zufall sein. Aber wäre es nicht Aufgabe der Ermittler gewesen, all diese Indizien schon längst einmal in einen Zusammenhang zu bringen? Einen Verdacht zu hegen und ihm nachzugehen, und sei es nur, um ihn ganz auszuschließen? Vielleicht ist das ja geschehen. Vielleicht haben ja diesmal alle alles richtig gemacht, vielleicht gab es bislang tatsächlich nichts zu entdecken. Bloß: Der Verdacht, dass schon wieder einmal Unfassbares unbemerkt von Polizei und Verfassungsschutz geschehen sein könnte, keimt und verfängt in einer Gesellschaft, die noch immer erschüttert ist vom strukturellen Behördenversagen im NSU-Komplex. In der ein brandgefährlicher Selbstmordattentäter unter den Augen der Polizei erst untertauchen und sich im Gefängnis ungehindert umbringen kann. In der Demonstranten am Tag der Deutschen Einheit die obersten Vertreter der deutschen Demokratie anpöbeln und auspfeifen können. In der Polizisten die Jagd auf Flüchtlinge in Bautzen und die Belagerung eines Flüchtlingsbusses in Clausnitz nicht verhindert haben. In der sich Bürgerwehren gründen, weil das Vertrauen in staatliche Ordnungskräfte schwindet. Das ist fatal, denn das Vertrauen, dass der Staat für die Einhaltung von Recht und Ordnung sorgen kann, ist ein Stützpfeiler der demokratischen Gesellschaft. Jede Erschütterung dieses Vertrauens lässt den Pfeiler erzittern.
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