Mittelbayerische Zeitung: Die Herausforderung: Viele Deutsch-Türken stimmten für Erdogans Machtfülle. Europa muss besser für seine Werte werben.
Regensburg (ots)
Die Enttäuschung von Berlin, Brüssel, Paris bis Rom über den Ausgang des türkischen Verfassungs-Referendums ist verständlich. Sie kommt auch in den knochentrockenen Stellungnahmen führender Politiker zum Ausdruck. Man erwarte, dass die türkische Regierung der Spaltung des Landes entgegenwirke und einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften suchen werde. Aus diesen diplomatischen Worten spricht nicht nur große Enttäuschung, sondern zugleich auch große Ohnmacht. Die Merkel, Gabriel und Co. fordern nicht weniger als eine Kehrtwende von Erdogan. Der nach weitreichender Alleinherrschaft strebende Präsident hat doch aber genau mit den Attacken gegen Andersdenkende, gegen Demokraten, gegen die Opposition, gegen Kurden, gegen Intellektuelle, Journalisten und unliebsame Militärs Wahlkampf gemacht. Erdogan und seine Lautsprecher aus der AKP haben die Türkei mit einem Feindbild mobilisiert, Ja zum undemokratischen Präsidialsystem zu sagen. Auch die unsäglichen Nazi-Attacken gegen Deutschland haben offenbar zum zweifelhaften Erfolg beigetragen. Auch viele ganz einfache Menschen in Deutschland, egal ob deutsch- oder türkischstämmig, sind besorgt, traurig, enttäuscht darüber, dass ausgerechnet unter den Deutsch-Türken die Zustimmung zu Erdogan und seinem "Staatsstreich von oben" so groß war. Fast zwei Drittel derer, die ihre Stimme in den hiesigen Generalkonsulaten abgegeben haben, votierten mit Evet (Ja). Im Grunde haben die Erdogan-Befürworter in Deutschland, die teilweise in Autocorsos hupend durch Straßen fuhren, dafür gestimmt, dass die Demokratie in ihrem Heimatland weitgehend abgeschafft wird. Würden sie sich das eigentlich auch für Deutschland wünschen? Gleichwohl muss die Zahl der rund 450 000 Ja-Sager zum türkischen Referendum in Deutschland relativiert werden. In Deutschland leben immerhin 3,5 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Nur 1,5 Millionen davon waren überhaupt wahlberechtigt. Es haben also gerade mal rund 13 Prozent der hier lebenden Türkischstämmigen für Erdogan gestimmt. Freilich macht eine solche Rechnung das Problem unzureichender Integration vieler Türken nicht kleiner. Erdogans Kampagne, Türken seien in Deutschland nicht willkommen und würden ausgegrenzt, fiel auf fruchtbaren Boden. Tatsächlich gab es in den vergangenen Jahrzehnten viele Versäumnisse in der Politik, aber auch im alltäglichen Verhalten gegenüber Türken. Mit einem türkischen Familiennamen hat man es heute immer noch schwer, Job oder Wohnung zu finden. Auf der anderen Seite wollten und wollen sich viele türkischstämmige Bürger gar nicht integrieren. Sie leben nach wie vor in türkischsprachigen Parallelgesellschaften, verfolgen Erdogan-nahe Medien, gehen in Moscheen, in denen von der türkischen Religionsbehörde entsandte und bezahlte Imame auf Türkisch predigen. Das muss sich ändern. Die Herausforderung für Deutschland, für alle europäischen Demokratien, besteht nun nicht darin, diese Parallelwelten, den Drang zu undemokratischen Verhältnissen und zu Autokraten weiterhin hinzunehmen, sondern viel entschiedener für unser Modell des Pluralismus, der Meinungsfreiheit, der Menschenrechte, kurz für unsere Werte zu werben. Und mit Erdogan müssen die Europäer Klartext reden, auch weil sein autoritärer Weg der türkischen Wirtschaft Schaden zufügt. Reflexhafte Reaktionen jedoch, wie die von einigen Unionspolitikern verlangte Abschaffung des Doppelpasses für türkischstämmige Deutsche, sollten unterbleiben.
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