Mittelbayerische Zeitung: In Rufweite
Hamburg ist ein guter Ort für das Treffen der G20.
Die Chance liegt in der direkten Kommunikation.
Regensburg (ots)
Helgoland. In Hamburg fällt immer wieder der Name der Nordseeinsel in der Deutschen Bucht. Warum machen die das nicht auf Helgoland? Also schon irgendwie in Deutschland, aber möglichst jwd, wie der Berliner sagen würde, janz weit draußen. Angesichts der angespannten Situation in der Hansestadt ist der Wunsch verständlich. Gleichzeitig kann er als Symptom einer Befindlichkeit dienen, die sich überall in Deutschland, in Europa, in der ganzen Welt unter denen breitmacht, die satt und zufrieden sind: Die Probleme sollen bitteschön jottwedee bleiben. Es reicht, wenn wir sie abends für zehn Minuten Nachrichten in unser Wohnzimmer lassen. In Hamburg beim Treffen der G20 - der 19 führenden Industrie- und Schwellenländer sowie der EU - liegen nichts weniger als die Probleme der Menschheit auf dem Präsentierteller: Hungertod in Zeiten von Überproduktion, extreme Armut in Zeiten von Turbokapitalismus, Umweltzerstörung wider besseren Wissens (und in Kenntnis besserer Technologien), Bildungsferne bei zunehmender Digitalisierung. Die Rechnung ist ganz einfach: Wenn sich eine starke Minderheit global ausbreitet, muss es die schwache Mehrheit ausbaden. Dieses Ungleichgewicht ist zudem ein nicht endender Quell kriegerischer Konflikte. Der damalige US-Präsident Bill Clinton regte vor 20 Jahren aus guten Gründen diese Form des internationalen Austauschs an. Die Frage ist, ob die starke Minderheit die Probleme lösen kann, indem sie sich einmal im Jahr auf einem Monstrum von Konferenz mit der schwachen Mehrheit beratschlagt. Kritiker der G20-Treffen bezweifeln das zu Recht. Doch was ist die Alternative? Stellen wir uns vor, die Delegationen reden nicht offiziell miteinander oder nicht mal aneinander vorbei. Sie begegnen sich auch nicht inoffiziell auf den Gängen und ja, in den Restrooms der Tagungsräume. Sie versuchen nicht, ohne Dolmetscher ein paar Höflichkeiten auszutauschen. Man hätte sich vielleicht 130 Millionen Euro und viel Krawall gespart. Aber auch die Chance vertan, die in der direkten Kommunikation liegt: Nur ein Bruchteil dessen, was Menschen mitteilen, läuft verbal, also wortwörtlich, ab. Der Großteil davon geschieht auf unbewusster Ebene. Menschliche Politik - und darum geht es letztlich bei diesem Treffen - ist nicht möglich, ohne das Zwischenmenschliche zuzulassen, auszuhalten und zu pflegen. Fortschritte auf diesem Weg werden sich nicht in den mehr oder weniger leeren Worthülsen finden, mit denen solche Konferenzen meist enden. Aber auch wenn sie zunächst unsichtbar bleiben, wirken sie nachhaltig. Sehr wohl sichtbar und spürbar ist der Protest in den Straßen Hamburgs. Solange er nicht zu Zerstörung und Tätlichkeiten führt - was leider bereits der Fall war - hat er sein Gutes: Er stellt das Leiden der Welt in einen anderen Zusammenhang. Er ist die undiplomatische Stimme, die im Chor der Diplomaten fehlt. Angeprangert wird, dass ausgerechnet diejenigen, die für die größten Auswüchse verantwortlich sind, sich nun in den Reihen der Problemlöser präsentieren: US-Präsident Donald Trump, der das Klimaabkommen aufgekündigt hat, ist das Paradebeispiel. Während Bundeskanzlerin Angela Merkel diplomatisch bleiben muss, formulieren die Kritiker, die ihr Grundrecht auf Demonstration wahrnehmen, unverblümt, was sie von Trump, Putin und Erdogan halten. Die Kritik der Globalisierungsgegner ist in vieler Hinsicht berechtigt. In Hamburg - und nicht auf Helgoland - hat sie auch beste Chancen, sowohl von der breiten Bevölkerung als auch von den Delegierten wahrgenommen zu werden. Am Tor zur Welt begegnet man sich in Rufweite.
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