Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zu Angela Merkel, Autor: Reinhard Zweigler
Regensburg (ots)
Der Wahlkampf lahme. Der Schulz-Zug sei bereits entgleist. Merkel rolle gewissermaßen im Schlafwagen wieder an die Macht. Alles schon gelaufen. Es gebe ohnehin kaum Unterschiede zwischen den Parteien. Egal, wen man wähle, alles die selbe Soße. So und ähnlich lauten die Einschätzungen und Kommentare gut drei Wochen vor der Bundestagswahl. Doch stimmt das wirklich? Klar, wenn die derzeitige Kanzlerin und unumstrittene Unions-Spitzenkandidatin in den Umfragen haushoch vor ihrem SPD-Herausforderer liegt, dann schürt das nicht gerade die Spannung. Doch Umfragen sind eben nur Umfragen. Mitunter blamieren sie sich angesichts der wirklichen Wahlergebnisse. Der unsägliche Brexit der Briten wurde von den Demoskopen ebensowenig vorhergesagt wie der Wahlsieg des ziemlich unberechenbaren Twitter-Präsidenten Donald Trump. Auch deutsche Bundestagswahlen der jüngsten Zeit kennen Entscheidungen, die erst auf der Zielgeraden fallen. 2002 schaffte es der angeschlagene Kanzler Gerhard Schröder noch, der in Gummistiefeln durch das Elbe-Hochwasser in Ostdeutschland watete, CSU-Chef Edmund Stoiber den sicher geglaubten Einzug ins Kanzleramt zu verbauen. Am Wahlabend stieg Stoiber in Berlin noch als Sieger ins Flugzeug ein, landete in München jedoch dann knapp geschlagen als Verlierer. Drei Jahre später rückte Schröder durch einen couragierten Wahlkampf der in den Umfragen weit vorn liegenden Herausforderin Merkel noch kräftig auf den Pelz. Will heißen, auch wenn die CDU-Chefin derzeit klar vorn liegt: Entschieden ist die Wahl erst am 24. September um 18 Uhr. In den jetzigen "heißen Wochen" vor dem Urnengang wird der Wahlkampf nicht nur hitziger, pointierter, polemischer, sondern auch die politischen Unterschiede werden dabei deutlicher. Gut so für die Demokratie. Herausforderer Martin Schulz geht Merkel zudem direkt persönlich an. Als entrückt und abgehoben attackiert er die Langzeit-Kanzlerin. Solche Verbalattacken sind, verglichen mit früheren Wahlkämpfen, eher niedlich, auf jeden Fall hinnehmbar. Sie treffen im Fall der emsigen Arbeiterin im Kanzleramt, Angela Merkel, jedoch nicht zu. Anders als ihre, dem Aktenstudium nicht besonders zugetanen Vorgänger Kohl und Schröder steigt die promovierte Physikerin Merkel bis in die Details der Probleme ein. Das verschafft ihr nicht nur Ansehen bei den internationalen Partnern, von Paris bis Washington, sondern auch bei geneigten Wählern und Wählerinnen sowie den Experten in Deutschland selbst. Unflätige Kritik und Beschimpfungen ihrer lautstarken Gegner lässt sie dagegen abperlen. Man muss Merkels zuweilen zögerliche Politik nicht mögen, aber ein X für ein U vormachen geht bei der Pfarrerstochter im Kanzleramt nicht. Merkels Problem liegt eher auf einer anderen Ebene. Sie ist kein Volkstribun, keine begnadete Rednerin, die ganze Säle und Marktplätze mitreißen kann. Sie ist, obwohl mit einem feinen, hintersinnigen Humor und inzwischen auch mit Bierzelterfahrung ausgestattet, immer von einer geradezu aufreizenden Nüchternheit. Man könnte auch sagen Langweiligkeit. Merkel donnert und schwadroniert nicht, wie ihr SPD-Herausforderer. Bei ihr wirkt alles durchdacht, berechenbar, vom Ende her gedacht, selten von großen Emotionen getragen. Das mag, zumal in stürmischen und unruhigen Zeiten mit immer neuen Herausforderungen wie jetzt, von Vorteil sein. Zugleich aber fällt es der Amtsinhaberin schwer, Visionen für die Zukunft zu entwerfen, an denen sich etwa junge Menschen aus der Facebook-Generation begeistern können. Auch ihr gestriger Presseauftritt in Berlin folgte dem Motto: Ich bin Angela Merkel. Sie kennen mich. Ich werde sie nicht enttäuschen. Das könnte, muss aber nicht, wieder fürs Kanzleramt reichen.
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