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Mittelbayerische Zeitung: Gefühlte Fakten
Komplexe Entscheidungen treffen wir eher mit Bauch als im Kopf. Deshalb kann das TV-Duell viel bewirken.

Regensburg (ots)

Bis zu 20 Millionen Menschen vor den Bildschirmen, 700 Journalisten vor Ort, im Studio acht Kameras und vier Moderatoren: Das TV-Duell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz am Sonntag wird ein Blockbuster. Ist der Hype um die Debatte gerechtfertigt? Können 90 Minuten Schlagabtausch das Ergebnis der Bundestagswahl überhaupt beeinflussen? Unbedingt! Die Deutschen wählen am 24. September weniger ein Programm als eine Person. Auch wenn wir uns wünschten, wir würden rational entscheiden als vernunftbegabte Wesen: Menschen wählen stark nach Gefühl. Sie treffen ihre Entscheidung aus dem Bauch statt mit dem Kopf - jedenfalls dann, wenn sie mehr als sieben bis zwölf Faktoren zu berücksichtigen haben. Eine Reihe von Studien, die berühmteste vielleicht von der Stanford University, belegen: Je mehr Kriterien eine Rolle spielen, desto sicherer verabschiedet sich die Ratio. "Wenn der Verstand abgelenkt ist, hat das Gefühl freie Bahn", ist eine Erkenntnis der Forscher. Das gilt bereits beim Autokauf, bei den Überlegungen zu Kilometer-Stand, Spritverbrauch, Schiebedach, Antriebsart, Farbe... Bei der Bundestagswahl spielt eine kaum überschaubare Vielfalt von Fakten und Perspektiven eine Rolle: Renten, Steuern, Bildung, Flüchtlinge, Umweltschutz... In der "Tyrannei der Wahl", wie es der Neurologe Antonio Damasio nennt, wird das überlastete Arbeitsgedächtnis ziemlich sicher an das Unterbewusstsein übergeben. Das muss übrigens nicht schlecht sein. Forscher sind sich einig, dass bei komplexen Prozessen die Intuition überlegen ist. Die Summe aus Erfahrungen und Eindrücken, erwarteten Vorteilen und erfüllten Versprechungen siegt über den gefühlfreien Faktencheck. Neue Fakten werden wir beim TV-Duell kaum hören. Welche Gefühle also werden die Amtsinhaberin und ihr Herausforderer hervorrufen? Angela Merkel dürfte in den Augen der meisten Menschen für Verlässlichkeit, Integrität und ruhiges Überlegen stehen. In unsicheren, auch unglaubwürdigen Zeiten sind diese Attribute keine Kleinigkeit. Persönliche Biographie und politische Botschaft erreichen bei ihr hohe Deckungsgleichheit. Martin Schulz dürfte in erster Linie assoziiert werden mit dem leidenschaftlichen Ringen um bessere Lebensbedingungen für den kleinen Mann und, nach zwölf Jahren Merkel, für einen Neuanfang. Die Kanzlerin signalisiert: "Vertrau mir. Du kennst mich." Der Kandidat vermittelt: "Dir geht es schlecht. Aber ich hab' einen Plan für unser Land." Der größte Schwachpunkt von Merkel ist vielleicht der Überdruss am "Weiter so" und das Fehlen frischer Ideen, der gravierendste Malus von Schulz wohl das hartnäckige Verwischen von Gleichheit und Gerechtigkeit und diese merkwürdige Schere zwischen der Entschiedenheit und dem Optimismus in seinen Worten und dem Eindruck, dass ihm Entschlossenheit abgeht und er selbst nicht mehr an seinen Wahlsieg glaubt. Die Stimmungslage der Wähler ist seit Wochen konstant und sieht ungefähr so aus: 39 Prozent für CDU/CSU, 22 Prozent für die SPD. Aber: Viele Wähler sind unschlüssig. Nach einer Untersuchung des Allensbach-Instituts waren zum 24. August 46 Prozent der Wahlberechtigten unentschieden. Martin Schulz kann also noch aus einem großen Reservoir schöpfen. 45 Prozent der Befragten glaubten bei der Erhebung, der Ausgang der Wahl stehe bereits fest. Von dieser Überzeugung sollte sich niemand leiten lassen. Wissenschaftler belegen: Wir bedauern falsche Kopfentscheidungen. Unter falschen Bauchentscheidungen leiden wir später weniger. Aber am meisten bereuen wir das: Keine Wahl getroffen zu haben.

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