Mittelbayerische Zeitung: "Ritt auf der Rasierklinge"
Ein Kommentar der Mittelbayerischen Zeitung zu den Jamaika-Sondierungen
Regensburg (ots)
Beim letzten schwarz-gelben Bündnis, das Deutschland von 2009 bis 2013 regiert hatte, gab es die verbalen Entgleisungen erst im Laufe der Wahlperiode. Den damaligen Vorwurf der Liberalen, die CSU benehme sich wie eine "Wildsau", konterte der damalige CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt mit der Bemerkung "Gurkentruppe" an die Adresse der FDP. So gesehen sind die jetzigen wechselseitigen Beschimpfungen der Jamaika-Partner insofern von Vorteil, weil man sich bereits vor dem gemeinsamen Regieren sagt, was man von den anderen wirklich denkt. Aber vielleicht sind die Attacken auch nur Ausdruck der eigenen Ratlosigkeit in einer extrem schwierigen, aber auch historisch einmaligen Situation. Bis zum 24. September waren sich vor allem CSU, FDP und Grüne in gegenseitiger Feindschaft zugetan. Vor dem Wahltag hätte wohl kein Christsozialer, kein Liberaler und auch kein Grüner im Traum daran gedacht, dass man in die Verlegenheit kommen könnte, ausgerechnet mit dem schärfsten politischen Kontrahenten einmal gemeinsam regieren zu müssen. Von wollen kann keine Rede sein. Vier dermaßen konträr ausgerichtete Parteien in einer Koalition zu vereinen, ist wie ein Ritt auf der Rasierklinge. Freilich hat der Wähler nun einmal so grandios entscheiden. Eigentlich kann nur ein Bündnis aus Schwarzen, Gelben und Grünen das Land regieren. Die GroKo wurde klar abgewählt. Seit rund vier Wochen wird nun Jamaika sondiert. Von außen erscheint es, als sei da ein Hamsterrad zugange. Es dreht sich unentwegt, kommt jedoch keinen Millimeter von der Stelle. Dabei wird oft vergessen, dass hier politische Welten, lange gepflegte Ideologien und ganz unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen. Die tage- und nächtelangen Jamaika-Sondierungen ermüden das Wahlvolk zunehmend, was verständlich ist. Doch die Sache verläuft auch deshalb so quälend, weil bei jedem Konflikt die alten Feindbilder aufbrechen. Eine wirkliche Basis der Zusammenarbeit, gar so etwas wie Vertrauen, hat sich in den endlosen Sondierungsrunden noch nicht eingestellt. Und die Fliehkräfte in einer Jamaika-Regierung, wenn sie überhaupt zustande kommt, sind riesig. Inzwischen versucht Angela Merkel, die lange Zeit die große Moderatorin gab, den Gesprächen Struktur und Zielorientierung zu geben. Das ist auch bitter nötig, soll Jamaika nicht an den Baum fahren, bevor es überhaupt richtig losgeht. Eine Hoffnung von Merkel jedoch, die widerspenstigen Jamaikaner in der vorletzten Nacht weichzukochen und zu Kompromissen zu zwingen, ging erst einmal nicht auf. Die CDU-Chefin hat vielleicht das größte Interesse von allen Verhandlungspartner, zum Ziel zu kommen. Scheiterte Jamaika, wäre ihre vierte Kanzlerschaft wahrscheinlich dahin. Der aufgestaute Frust in CDU, aber noch mehr in der CSU, über das schwache Wahlergebnis könnte die Langzeitkanzlerin den Job kosten. Unter anderen Vorzeichen trifft das auch auf Horst Seehofer zu. Er ist, bei Strafe seiner schnellen Entmachtung, auf vorzeigbare Sondierungsergebnisse angewiesen, die er in Bayern den unzufriedenen Mandatsträgern und der Basis vorlegen kann. Seht her, das habe ich geschafft. Doch während man das eine Herzensanliegen der Partei, die erweiterte Mütterrente, vermutlich hinbekommen wird, weil der finanzielle Spielraum groß genug sein dürfte, wurde die Verhinderung der Familienzusammenführung für Kriegsflüchtlinge zu einer Prestige- und Glaubwürdigkeitsfrage aufgeblasen. Das ist sie aber gar nicht, wenn man die realen Zahlen nüchtern betrachtet. Doch selbst für diesen vertrackten Konflikt ließe sich ein Kompromiss finden. Es müssten nur alle wollen.
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