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Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zur "EU-Flüchtlingspolitik"

Regensburg (ots)

Mit einem geschickten Schachzug haben sich die in der "Visegrad-Gruppe" zusammengeschlossenen Osteuropäer aus dem Schmollwinkel befreit und wieder in der Mitte der Europäischen Gemeinschaft platziert. Am gestrigen Vormittag, noch vor Gipfelbeginn, boten die Regierungschefs Ungarns, Tschechiens, Polens und der Slowakei dem italienischen Premier 36 Millionen Euro für Grenzsicherungsmaßnahmen und humanitäre Hilfe in Libyen. Italien leitet das Projekt, mit dem Flüchtlinge an der Weiterreise nach Europa gehindert werden sollen. Die Botschaft ist klar. Die Osteuropäer zeigen sich solidarisch - aber nur bei gemeinschaftlichen Vorhaben, die mit ihren eigenen politischen Zielen übereinstimmen. Damit versuchen sie sich von dem mehrheitlich, aber gegen ihren Willen gefassten Beschluss der Regierungen freizukaufen, Flüchtlinge aus den besonders stark belasteten Ländern Italien und Griechenland nach einem Quotensystem auf andere Mitgliedsstaaten zu verteilen. Ratspräsident Donald Tusk, der als ehemaliger polnischer Ministerpräsident die Mentalität seiner Landsleute gut kennt, leistete im Vorfeld Schützenhilfe. Er ließ im Einladungsbrief zum Gipfel durchblicken, dass er vom Umverteilungssystem, das auf einen Vorschlag der EU-Kommission zurückgeht, absolut nichts hält. Dimitris Avramopoulos, der zuständige Kommissar, schäumte. Bei einer Pressekonferenz kritisierte er Tusks Haltung in ungewohnt deutlichen Worten. Schon lange schwelt ein Machtkampf zwischen Tusk und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, in dem Tusk nun eine wichtige Runde für sich entscheiden konnte. Auch in Berlin reagierte man verärgert auf den Alleingang des Polen - und das mit Recht. Welche Durchsetzungskraft haben mehrheitlich gefasste Beschlüsse in Zukunft, wenn nicht einmal der Vorsitzende selbst auf ihrer Umsetzung besteht? Kann dann künftig jeder, der sich in einer Abstimmung nicht durchsetzen konnte, das Ergebnis mit dem Hinweis ignorieren, es sei nicht praktikabel, nicht wünschenswert oder habe sich schlicht nicht bewährt? Auch die Autorität des Europäischen Gerichtshofs wird dadurch beschädigt. Er hatte erst kürzlich den Umverteilungsbeschluss für rechtens erklärt. Das Argument, er sei politisch nicht durchsetzbar, ließ der EuGH nicht gelten und wies eine entsprechende Klage Ungarns und der Slowakei zurück. Ungarn soll 1294 Menschen aufnehmen, ignoriert aber bis heute das EuGH-Urteil. Die Slowakei hat von den ihr zugewiesenen 902 Flüchtlingen gerade einmal 16 ins Land gelassen. Dennoch stand Angela Merkel gestern mit ihrer Empörung ziemlich allein da. Das liegt am Thema. Viele EU-Regierungen sind in Wahrheit froh, dass die Osteuroparoute dicht ist und nun auch der Weg übers Mittelmeer von der EU mit libyscher Hilfe blockiert wird. Zwar zeigt man sich offiziell entsetzt von den menschenverachtenden Zuständen in libyschen Lagern. Andererseits will man mit allen Mitteln verhindern, dass wieder mehr Menschen die mörderische Reise nach Europa wagen. Weil das so ist, werden die Visegrad-Länder mit ihrem Ablasshandel vermutlich das beabsichtigte Ziel erreichen, keinen einzelnen Muslim über die Grenze lassen zu müssen. Die Folgen für die Gemeinschaftsmoral sind fatal. Denn jedes Land hat irgendwo seinen schwachen Punkt. Für die Osteuropäer sind es die Flüchtlinge, für Luxemburg und Belgien die Unternehmenssteuern, für Österreich die Russlandsanktionen. Wenn die europäische Politik künftig wieder davon abhängt, dass alle stets mit allem einverstanden sind, dann stehen uns neuerlich Jahre der Lähmung bevor.

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