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Mittelbayerische Zeitung: Was der Holocaust uns heute sagt
Ein Kommentar der Mittelbayerischen Zeitung Regensburg zum Holocaust-Gedenktag

Regensburg (ots)

Die Erinnerung an den Holocaust hat eine Menge mit uns selbst zu tun. Wenn junge Menschen das verstehen und verinnerlichen, können sie heutige Angriffe auf die Demokratie leichter als solche erkennen und zukünftig eine menschliche Gesellschaft mitgestalten. Damit die mittlerweile vierte Generation nach Auschwitz Hintergründe und Dimension des Holocaust kritisch reflektiert, gilt es, sich das Wort der KZ-Überlebenden Ruth Klüger zu Herzen nehmen. Sie sagte, man sollte sich dem Holocaust nicht mit Ehrfurcht nähern. Das verkrampfe das Denken. Wem eine zeitgemäße Form des Erinnerns am Herzen liegt, darf von Schülern beim Besuch einer KZ-Gedenkstätte nicht Scham und Betroffenheit einfordern. Verordnetes Erinnern kann schlimmstenfalls Abwehrhaltung erzeugen, denn junge Menschen wollen ihre Welt eigenständig deuten. Um einfühlende Aufmerksamkeit zu erreichen, müssen Schüler an eigene Erfahrungen anknüpfen können. Dabei ist es wichtig, den Holocaust nicht von seinem Ende her zu erzählen. Das Monströse, das in den Konzentrationslagern geschah, kann Schüler überfordern. Natürlich sollen sie wissen, welche unfassbaren Konsequenzen der Rassenwahn der Nazis hatte. Doch sie müssen die grauenvollen Bilder von Tod und Verderben auch einordnen können und erfahren, wie es soweit kommen konnte. "Wann beginnt das Schreckliche?" fragte eine Schülerin den Regensburger Holocaust-Überlebenden Ernst Grube, als er mit ihrer Klasse über seine Kindheit im Nationalsozialismus sprach. Diese Frage ist einfach, aber klug gestellt. Sie setzt eine wichtige Erkenntnis voraus: Nämlich die, dass "das Schreckliche", die systematische Vernichtung von mehr als sechs Millionen Menschen, nicht erst mit dem Bau von Verbrennungsöfen oder an der Selektionsrampe von Auschwitz begann. Sondern viel früher. Mit dieser Frage können wir an das Heute anknüpfen: Wenn wir uns mit dem Wertewandel in der deutschen Gesellschaft auseinandersetzen, der nach dem 30. Januar 1933 begann. Warum empfanden es die meisten Deutschen als zunehmend normal, dass Normen wie Solidarität, Gerechtigkeit und Mitleid für Juden nicht mehr galten? Warum trugen sie die praktische Umsetzung der nationalsozialistischen Rassepolitik so bereitwillig mit? Was diese für einen Einzelnen bedeutete, davon können Überlebende wie Ernst Grube aus persönlicher Erfahrung berichten: Darüber, was das Nicht-Dazugehören-dürfen für Menschen bedeutet. Als Sohn einer jüdischen Mutter wurde er beschimpft und angespuckt. Mit seinen sechs Jahren konnte er nicht begreifen, warum. Für Grube, den die Nazis mit Mutter und Geschwistern nach Theresienstadt deportierten, begann das Schreckliche nicht erst im KZ, sondern mit der Erfahrung von Ausgrenzung. Das kann jeder nachvollziehen: Ausgrenzung existiert, in unterschiedlichen Varianten, überall auf der Welt und zu allen Zeiten. Wer aus der Geschichte die richtigen Schlüsse zieht, kann die Gegenwart meistern und Orientierung für die Zukunft gewinnen. Das heißt nicht, dass die Geschichte sich wiederholen muss. Doch die NS-Zeit bietet eine negative Folie, anhand der Jugendliche Wert von Demokratie und solidarischem Miteinander ermessen können - Errungenschaften, die ihnen vielleicht zu selbstverständlich errscheinen. Beides ist auch heute Anfechtungen ausgesetzt: Menschen urteilen pauschal über andere, sprechen ihnen ihre Individualität ab und stempeln sie zu bloßen Angehörigen einer als negativ gezeichneten Gruppe. Das erfordert Widerspruch: Eine Gesellschaft, die ausgrenzt, schadet sich selbst. Wer stark ist in seiner Identität, bringt Minderheiten Respekt entgegen. Wenn wir zulassen, dass sich unser Wertesystem verschiebt, wenn es normal wird, dass wir anderen Menschen Solidarität versagen, weil wir sie entmenschlicht haben, werden wir selbst unmenschlich.

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