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Mittelbayerische Zeitung: Neuanfang mit Orban?
Beim Treffen zwischen der Kanzlerin und dem ungarischen Premier kommt es zu einer offenen Aussprache. Damit eröffnet sich vielleicht eine letzte große Chance. Von Ulrich Krökel

Regensburg (ots)

Wenn es stimmt, dass man strittige Dinge zunächst klar aussprechen muss, damit sich ein Streit überhaupt entschärfen lässt, dann haben Angela Merkel und Viktor Orban gestern einen wichtigen Beitrag zur Konfliktlösung geleistet. Selten hat man eine Pressekonferenz zwischen EU-Partnern erlebt, in der die Unterschiede so klar benannt wurden wie nach diesem Treffen zwischen der Bundeskanzlerin und dem ungarischen Ministerpräsidenten in Berlin. Man muss sich das noch einmal auf der Zunge zergehen lassen: Man sehe die Welt grundsätzlich anders, erklärte Orban rundheraus, jedenfalls beim Thema Migration, jenem Thema also, das derzeit alle anderen Fragen in der europäischen Politik überlagert. Auch das wurde bei diesem denkwürdigen Auftritt mehr als deutlich. Merkel stimmte ihrem Gast nicht nur zu. Sie betonte die Differenzen in der Weltsicht sogar ("... und genau da kommt jetzt der Unterschied ..."). Es gehe in der Flüchtlingspolitik um Menschen, schrieb sie ihrem Gast ins Stammbuch. Merkel habe das Dilemma, in dem sich Europa befinde, genau bezeichnet, erwiderte Orban. Er sei aber, anders als die Kanzlerin, davon überzeugt, dass man nur human helfen könne, indem man die Grenzen schließe. Genau das habe Ungarn getan. Dadurch schütze man auch Deutschland und ganz Europa. Dafür verdiene man Dank statt des unfairen Vorwurfs mangelnder europäischer Solidarität, der ihn und seine Landsleute sehr schmerze. Punkt. Handschlag. Abgang. Und nun? Wie kann es weitergehen, nicht nur zwischen den beiden so überzeugten und selbstgewissen Regierungschefs, sondern in der europäischen Migrationspolitik insgesamt, in der die Demarkationslinie ja genau dort verläuft, wo sich Merkel und Orban gegenüberstehen? Im Grunde liegen die Lösungen seit langem auf dem Tisch: Konsequenter Schutz der EU-Außengrenzen, kompromisslose Bekämpfung von Schleuserkriminalität, deutlich verstärkte Hilfe vor Ort, also in den Herkunftsländern potenzieller Migranten, humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und Asyl für alle Verfolgten. Auch Merkel und Orban haben all diese Punkte benannt, mit unterschiedlicher Gewichtung zwar, aber die Kanzlerin betonte ausdrücklich, dass sie den Einsatz der ungarischen Polizei an der EU-Außengrenze als Beitrag zur europäischen Solidarität ernst nehme. Man könnte sogar soweit gehen zu behaupten, dass sich die Differenzen zwischen den, sagen wir: Streitpartnern, vollständig auflösen ließen, wenn man die oben skizzierte Agenda in die Tat umsetzen würde. Fragt sich nur: Warum ist das nicht schon längst geschehen? Zugegeben, der Teufel steckt oft im Detail. So lässt sich die Bekämpfung von Schlepperbanden in Nordafrika und auf dem Mittelmeer leichter fordern als in die Tat umsetzen. Dennoch ist das Vollzugsdefizit in der europäischen Migrationspolitik eklatant. Genau daran gilt es dringend etwas zu ändern. Beim jüngsten EU-Gipfel schien es, als könnte dies bald passieren, und auch die offene Aussprache zwischen Merkel und Orban könnte in diesem Sinn ein Neuanfang gewesen sein. Wie wichtig das wäre, machte die Kanzlerin klar, als sie all die wichtigen Themen auflistete, denen man sich widmen wolle, von der Digitalisierung bis zum Handelskonflikt mit den USA. Korrekt hätte es heißen müssen: Denen man sich endlich einmal widmen müsste und widmen könnte, wenn man das Migrationsthema vom Tisch bekäme. Das Wort Brexit war da noch gar nicht gefallen, obwohl Merkel im Anschluss an das Gespräch mit Orban die britische Premierministerin Theresa May treffen wollte. Man kann angesichts dieser Lage nur inständig hoffen, dass sich der Streit der vergangenen Wochen, Monate und Jahre durch die neue Bereitschaft der Beteiligten, öffentlich Tacheles zu reden, entschärfen lässt. Eins ist klar: Schaffen Merkel, Orban und all die anderen Europäer dies nicht, werden sie als gescheiterte Politikergeneration in die Geschichte eingehen.

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