Mittelbayerische Zeitung: Die Angst vor dem Brexit
Die Stimmung im Vereinigten Königreich kippt. Den Briten wird langsam klar, welche verheerenden Folgen der EU-Austritt für ihr Land hätte. Von Jochen Wittmann
Regensburg (ots)
Die Chancen für ein zweites Referendum über den britischen Austritt aus der EU steigen. Kürzliche Umfragen demonstrieren erstmals eine Mehrheit für eine erneute Volksabstimmung über den Brexit. Das Meinungsforschungsinstitut YouGov ermittelte in einer Umfrage für die Zeitung "Times", dass 42 gegenüber 40 Prozent der Briten eine erneute Abstimmung über die Bedingungen des Austritts wünschen. Und in einer Meinungserhebung, die der Nachrichtensender Sky News am Montag veröffentlichte, sprachen sich 50 Prozent der Befragten für ein Referendum aus, in der drei Optionen zur Wahl stehen: In der EU zu verbleiben, ohne jeden Deal auszusteigen oder den Deal zu akzeptieren, den die Regierung mit Brüssel aushandeln kann. Dabei hat die letztere Option die wenigsten Anhänger: Nur 13 Prozent der Briten trauen der Regierung von Premierministerin Theresa May zu, ein akzeptables Austritts- und Handelsabkommen mit der EU vereinbaren zu können. 27 Prozent sprechen sich für einen sogenannten Klippen-Brexit aus, in dem das Königreich auf ein Abkommen verzichtet und seinen Außenhandel nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO ausrichtet. 48 Prozent der Befragten dagegen würden in einem zweiten Referendum dafür stimmen, die EU nicht zu verlassen. Die Stimmung kippt im Königreich. Die Briten bekommen Angst vor den negativen Folgen eines Austritts. In den letzten Wochen machten Geschichten über die Konsequenzen eines Außenhandels nach WTO-Regeln die Runde. Das würde zwangsläufig zu Grenzkontrollen führen, die die integrierten Nachschubketten und die sogenannten Just-in-time-Lieferungen gefährden. Meilenlange Lastwagenschlangen an den britischen Fährhäfen wären die Folge. Engpässe beim Nachschub von Lebensmitteln oder Medikamenten würden auftreten. Die Versicherungen des Brexit-Ministers Dominic Raab, dass man sich für diese Fälle vorbereite und Lebensmittel und Medikamente horten würde, haben eher für Unruhe bei den Briten gesorgt. Horten? Hamstern? Ist es so weit schon gekommen, fragen sich die Leute. Die Frustration über eine Regierung, die mit sich selbst streitet, ob sie einen weichen oder harten Brexit will, ist mit Händen zu greifen. Laut der Sky-News-Umfrage denken mehr als drei Viertel, dass die Regierung die Verhandlungen verpfuscht und 74 Prozent sind unzufrieden mit der Leistung ihrer Premierministerin May. 65 Prozent sind überzeugt, dass Großbritannien einen schlechten Handelsdeal bekommen wird. Das Lager derjenigen, die innerhalb der EU verbleiben wollen, wittert Morgenluft. Die Zeitung "Independent" organisierte eine Petition für ein zweites Referendum und konnte innerhalb von vier Tagen über 350 000 Unterschriften erzielen. Die größte Gewerkschaft des Landes Unite verlangt das schon seit langem und macht dafür Druck innerhalb der Labour-Partei. Die "Remainer" des Landes setzen jetzt eine konzertierte Aktion in Gang, um ein zweites Referendum herbeizuführen. Unter dem Dachverband "People's Vote" kämpfen neun Organisationen dafür, genügend öffentlichen Druck aufzubauen. Für den Oktober hat man zu einer Demonstration in London aufgerufen, die die Dimension des Anti-Kriegs-Protests vom Februar 2003 erreichen soll, als rund eine Million Menschen durch die Straßen der Hauptstadt marschierten. Downing Street dagegen will nichts von einer erneuten Volksbefragung wissen. Ein Regierungssprecher erklärte, dass "es unter keinen Umständen ein zweites Referendum geben wird". Allerdings ist nicht nur das Kabinett zerstritten über den Brexit-Kurs, sondern auch das Parlament. Für ein sogenanntes "No-Deal-Szenario", also den Klippen-Brexit, gibt es im Unterhaus keinesfalls eine Mehrheit. Und wahrscheinlich auch nicht für einen schlechten Deal. In dieser Situation könnte es für die Politiker immer attraktiver werden, die Entscheidung über den Brexit ans Volk zurückzudelegieren.
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