Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zur Online-Umfrage über eine Abschaffung der Zeitumstellung: Die Alibi-Abstimmung der EU von Julia Weidner
Regensburg (ots)
Alle Jahre das gleiche Spiel: Ende Oktober freuen sich die Europäer, weil sie eine Stunde länger schlafen dürfen. Ende März quälen sie sich eine Stunde früher aus dem Bett. Der Grund: die Zeitumstellung. Ihre Meinung dazu durften bis gestern Nacht alle EU-Bürger abgeben. Doch die Debatte um die Zeitumstellung ist vor allem eines: Zeitverschwendung. Diese Umfrage ist zu gleichen Teilen mühsam wie wirkungslos, weil die EU nicht an das Ergebnis gebunden ist. Schon allein der Weg zum Online-Fragebogen ist beschwerlich. Wer den ellenlangen Infoblock auf der Startseite sieht, ist schon abgeschreckt, bevor er überhaupt zur Abstimmung gelangt. Danach müssen die Befragten geduldig sein. Zu fünf Fragen dürfen sich die EU-Bürger äußern. Sie können angeben, welche Erfahrungen sie mit der Umstellung gemacht haben, für welche Regelung sie sich entscheiden würden und Gründe dafür angeben. Für die kurzen Fragen, die man nur per Kreuzchen beantwortet, müssen die Teilnehmer der Umfrage schon einmal 20 Minuten einplanen. Bei jedem Schritt ist die Seite der EU-Kommission überlastet, baut sich neu auf. Am Ende funktioniert das Absenden des Bogens oftmals nicht und all die Mühe war nur Zeitverschwendung. Dabei hat nur ein kleiner Bruchteil der über 500 Millionen EU-Bürger an der Umfrage teilgenommen. Das Ergebnis der Online-Befragung kann also nicht einmal für die Meinung der Bürger stehen. Im Grunde ist der Fragebogen eh nur eine Alibi-Abstimmung. Von der EU selbst wird der Prozess als Konsultation betitelt. Das Fremdwort täuscht nicht darüber hinweg, dass die Kommission aus der Umfrage keine Konsequenzen ziehen muss. Die Behörde selbst betont, die Umfrage sei nur ein Teil der Bewertung und kein Referendum. Der Aufwand der Bürger ist wieder einmal Zeitverschwendung. Nur, wenn die EU-Kommission zu dem Schluss kommt, dass die Zeitumstellung abgeschafft werden sollte, könnte sie einen entsprechenden Gesetzesvorschlag vorlegen. Neben der Online-Umfrage verpflichtete sich die EU-Kommission dazu, die Auswirkungen der Sommerzeit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union eingehend untersuchen zu lassen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen der Kommission im Jahr 2000: bestenfalls schwammig. Laut dem Bericht hat die Zeitumstellung weder auf die Landwirtschaft noch auf die Ozonbildung messbaren Einfluss. Auch beim Hauptgrund für die Einführung der Sommerzeit - der Energieeinsparung - ist nicht erkennbar, ob weniger Strom verbraucht wurde oder insgesamt Energie eingespart wurde. Ein weiterer schwerwiegender Grund wären die Auswirkungen auf den Verkehr. In der Zeit nach der Uhrumstellung im Frühjahr sind laut dem Bericht der Kommission mehr Unfälle passiert, weil Autofahrer übermüdet vor dem Steuer saßen. Doch dazu liegen der EU-Kommission keine vergleichbaren Daten vor. Auch diese Untersuchung blieb also ohne Ergebnis. Sollte sich die Kommission trotz dieser unklaren Lage für die Abschaffung der Zeitumstellung einsetzen, müssten sowieso noch das Europaparlament und die EU-Staaten dem Gesetzesentwurf zustimmen. Theoretisch dürften die Staaten einzeln entscheiden, ob sie die Zeitumstellung abschaffen wollen. Doch innerhalb der EU ist klar, dass es eine einheitliche Lösung geben soll. Ansonsten gäbe es Probleme beim Handel zwischen den Mitgliedsstaaten oder im Verkehr. Am Ende überwiegt wohl bei den meisten Teilnehmern der Umfrage die subjektive Wahrnehmung. Frühaufsteher haben mit und ohne Zeitumstellung keine Probleme, morgens ans Werk zu gehen. Genauso werden sich Morgenmuffel jeden Tag aufs Neue aus dem Bett quälen - dabei macht es keinen Unterschied, ob gerade Sommer- oder Winterzeit ist.
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