Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu CDU/Werkstattgespräch: In Merkels Schatten von Katia Meyer-Tien
Regensburg (ots)
Es war kein Tribunal. Keine Abrechnung. Wer sich vom zweitägigen CDU-Werkstattgespräch substanzielle Kritik an Angela Merkel und ihrer Flüchtlingspolitik erwartet hat, der musste zwangsläufig enttäuscht werden. Denn das Werkstattgespräch hieß auch deswegen nicht Krisengipfel und nicht einmal Diskussion, weil Praxisorientierung und Arbeitscharakter des Treffens im Vordergrund stehen sollten. Doch natürlich ist die Kanzlerin omnipräsent bei dem Treffen, bei dem sie nicht einmal anwesend ist. Wer in der CDU Migration, Sicherheit und Integration hört, der denkt wohl automatisch an das, was von 13 Jahren Kanzlerschaft bislang am eindrucksvollsten in Erinnerung bleibt: Jener Herbst 2015, in dem Elend und Angst der Ärmsten der Welt auf Angst und Frust der Deutschen trafen, und sich Hass ebenso wie Hilfsbereitschaft unerwartet lautstark Bahn brachen. Als Merkels "Wir schaffen das" in einem gespaltenen Land die CDU dort positionierte, wo nicht alle Mitglieder sein wollten. Und sie fortan zum Sündenbock machte, für all das, was schief lief in den folgenden Monaten: Die Überforderung der Grenzschützer, die überfüllten Turnhallen, kurz: für alle Probleme von der ordnungsgemäßen Registrierung der Ankommenden über die Integration der Bleibenden bis zur Rückreise der abgelehnten Asylbewerber. Der folgende innerparteiliche Richtungsstreit, in deren letzter Konsequenz beinahe die Fraktionsgemeinschaft mit der CSU zerbrochen wäre, kennt nur Verlierer. Denn er verstellte den Blick auf das große Ganze, darauf, dass es nicht Merkels "Wir schaffen das", sondern das gesamteuropäische Versagen in der Fluchtursachenbekämpfung und der Migrationssteuerung war, das zur großen Krise führte. Da scheint das Werkstattgespräch nun als der richtige und wichtige Versuch, diese Probleme wieder in den Fokus der Debatte zu rücken. Und Migrationsursachen und -folgen als das darzustellen, was sie sind: Nicht ein zu überwindendes Kapitel, nicht ein potenzielles Trauma der CDU, sondern eine der drängendsten Fragen des Jahrhunderts, für die es eine gemeinsame Strategie zu finden gilt. Innerhalb der CDU, innerhalb Deutschlands, Europas, am besten weltweit. Doch der Schatten des "Wir schaffen das" ist noch groß. Und unter ihm die Angst, Fehlentscheidungen in der Vergangenheit einzuräumen und damit womöglich Wasser auf die Mühlen der Rechten zu geben. Zu groß aber auch die Angst, die Entscheidungen der Vergangenheit zu bekräftigen und damit womöglich die Spaltung der Partei weiter voranzutreiben. So wirkt das CDU-Werkstattgespräch nicht wie der große Befreiungsschlag, den mancher sich erhofft hat, sondern eher wie eine kleine Blase, in der richtige und wichtige Dinge gesagt werden, deren Breitenwirkung aber ebenso fraglich bleibt wie ihr Potenzial zur Befriedung des noch immer schwelenden innerparteilichen Richtungsstreites. Deshalb darf dieses Werkstattgespräch nur der Auftakt gewesen sein zu einer praxisorientierten Grundsatzdebatte darüber, wie sich die CDU in der Migrationspolitik positionieren will. Dabei geht es um viel mehr als um Obergrenzen, um viel mehr als um das Erbe Angela Merkels und um viel mehr als um die anstehenden Europa- und Landtagswahlen. Denn selbst wenn die Turnhallen heute wieder leer sind: Die grundsätzliche Frage, wie Europa den Opfern von Armut, Krieg und globaler Ungleichheit begegnet, beschäftigt die Menschen. Und ebenso die Sorge um ihre eigene Sicherheit und den eigenen Wohlstand. Und wenn es nicht die großen Volksparteien sind, die klare Worte finden, um diesen Sorgen zu begegnen, suchen die Menschen die Antworten anderswo.
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