Mittelbayerische Zeitung: Gut ist besser als schnell
Die elektronische Patientenakte ist eines der wichtigsten Gesundheits-Projekte. Gelingen kann sie nur mit Vertrauen. Das wird gerade verspielt. Von Katia Meyer-Tien
Regensburg (ots)
Längst ist es keine Pflicht mehr, dass angehende Ärzte den Hypokratischen Eid leisten. Als Ehrenkodex zum Schutz und Wohle des Patienten aber spielt er noch immer eine große Rolle. So kann, wer die Bedenken in der Ärzteschaft um die Sicherheit der Patientendaten in der neuen "Elektronischen Patientenakte", kurz ePA, nachvollziehen will, dort nachlesen: "Was immer ich sehe und höre bei der Behandlung (...) so werde ich von dem, was niemals nach draußen ausgeplaudert werden soll, schweigen (...). Die Schreckensvision des gläsernen Patienten, dessen intimste Daten an die Öffentlichkeit gelangen könnten, ist der eine Pol der Debatte um die ePA, die, wenn es nach Gesundheitsminister Jens Spahn geht, im übernächsten Jahr eingeführt werden soll. Für diese müssen - das Einverständnis des Patienten vorausgesetzt - Patientendaten, Diagnosen und Verschreibungen elektronisch erfasst und gespeichert werden, so dass der Patient selber und andere Ärzte darauf Zugriff haben. Das ist nicht ohne Risiko, müssen die Daten doch so gespeichert werden, dass kein Unbefugter darauf Zugriff haben kann. Dass das schief gehen kann zeigen Beispiele anderer Länder: In Singapur sind unlängst die Daten von 14 000 HIV-positiven Patienten an die Öffentlichkeit gelangt, inklusive Adressen und Telefonnummern. In Norwegen haben Hacker vergangenes Jahr die Gesundheitsdaten von drei Millionen Menschen erbeutet, auch in den USA werden immer wieder Fälle von millionenfachem Datendiebstahl bekannt. Dabei muss es gar nicht dieser schlimmste aller Fälle sei: Unwohlsein regt sich bei manchem Patienten schon bei der Vorstellung, dass der Orthopäde Zugriff auf die Befunde des Gynäkologen bekommen oder der Zahnarzt den Bericht des Psychologen lesen könnte. Und ist es in Zukunft noch möglich, eine unabhängige Zweitmeinung einzuholen, wenn die elektronische Patientenakte den eindeutigen Erstbefund schon verzeichnet? Und was, wenn Versicherungen vor dem Abschluss einer Police zur Berufsunfähigkeit oder einer Lebensversicherung Einblick in die Daten fordern? Oder Banken? Oder Arbeitgeber? Es sind Bedenken wie diese, die die Einführung der elektronischen Patientenakte zum Mammutprojekt werden ließen, in dem der technische Fortschritt die politische Debatte immer wieder überholt hat. Und so ist beispielsweise die nun verfolgte Lösung mit dezentralen Konnektoren in jeder Praxis schon jetzt als weiteres Sicherheitsrisiko in der Kritik. Dabei wäre der Nutzen eines solchen Systems enorm: Notfallmediziner hätten alle wichtigen Daten von Blutgruppe über Allergien bis zu Vorerkrankungen unmittelbar parat, kostspielige Mehrfachuntersuchungen könnten vermieden, Wechselwirkungen zwischen verordneten Medikamenten verhindert werden. Patienten könnten einen besseren Überblick über ihre Diagnosen bekommen und vielleicht sogar selbst erhobene Daten über ihre Ernährung, Blutzuckerwerte oder Sportprogramme einfügen. Dies alles aber ist nur möglich, wenn die Patienten von Nutzen und Sicherheit der Akte so überzeugt sind, dass sie der Speicherung all dieser Daten auch zustimmen. Denn je vollständiger die Akte, desto größer ihr Nutzen. Vor diesem Hintergrund ist es geradezu verantwortungslos, dass die ePA nun 2021 in "abgespeckter Version" an den Start gehen soll, um den gesetzten Zeitplan einzuhalten. Fehlen soll ausgerechnet die Möglichkeit für den Patienten, für einzelne Mediziner nur Teile der Akte freizugeben. Dabei ist genau die elementar wichtig, um Vertrauen und Akzeptanz zu schaffen - sie wegzulassen, das ist, als würde eine Bank EC-Karten ausgeben, bei der jede Kassiererin beim Bezahlen im Supermarkt den Kontostand und alle Transaktionen einsehen könnte. Wohl kaum jemand würde sie nutzen - und man könnte die Einführung auch gleich bleibenlassen.
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