Mittelbayerische Zeitung: Eine Lehre für die Politik Über viele Jahre glaubte Deutschland der OECD und wollte möglichst viele Akademiker.
Regensburg (ots)
Die Bertelsmann-Stiftung hebt mahnend den Finger: Bayern müsse mehr dafür tun, die Berufsausbildung attraktiver zu machen, hieß es in dieser Woche. Tatsächlich ist die Zahl der unbesetzten Lehrstellen in Bayern binnen zehn Jahren um mehr als das Dreifache gestiegen. Dieses Problem ist nicht nur der Prosperität Bayerns und dem demografischen Wandel geschuldet, auch nicht vom Freistaat oder den Betrieben hausgemacht. Es ist auch die Konsequenz einer fatalen Fehleinschätzung der deutschen (Berufs-)Bildungslandschaft. Vor knapp 20 Jahren machte ein Warnruf der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Schlagzeilen: "Deutschland hat zu wenig Studenten!" Die Besonderheiten der beruflichen Ausbildung hierzulande hatten die Statistiker der OECD nicht im Blick. Sie dachten, nur Hochschulen brächten die für die Zukunft dringend benötigten Fachkräfte hervor. Falsch gedacht. Fast zwei Jahrzehnte später preist die OECD das deutsche duale System in höchsten Tönen. Der Meister und der Techniker stehen auf einer Ebene mit dem Hochschulabsolventen. Überall dort, wo die Jugendarbeitslosigkeit hoch ist, interessiert sich die Regierungen brennend für den hochwertigen Ausbildungsweg "made in Germany". Auch die deutsche Politik, die der OECD lange brav folgte und sich eine höhere Akademikerquote auf die Fahnen schrieb, hat eingesehen, dass sie auf dem Holzweg war. "Wir steigern die Attraktivität der beruflichen Bildung, sie ist für uns gleichwertig mit der akademischen Bildung." So steht es im Koalitionsvertrag der GroKo. Eine späte, wichtige Erkenntnis. Dass ausgerechnet der Freistaat von der Stiftung getadelt wird, ist deshalb bemerkenswert, weil das bayerische Schulsystem die Betriebe lange Zeit mit ausreichend qualifizierten Lehrlingen versorgte. Gerade auf dem Land ist die Lehrstelle eben keine Resterampe für junge Leute, die es nicht an die Uni geschafft haben. Hier hatten auch der Hauptschul- und der Realschulabschluss noch lange den ihnen gebührenden Stellenwert. Das bayerische Abitur galt als elitär. Dann kam der politisch forcierte "Akademisierungswahn": So benannte der Philosoph Julian Nida-Rümelin einen leicht hysterischen Zustand, der auch jedes Jahr im Frühjahr zehntausende Eltern an den Rand ihrer Kräfte bringt. Dann nämlich, wenn an der Grundschule der Übertritt ans Gymnasium ansteht und sich scheinbar die Zukunft der gerade Zehnjährigen ein für alle Mal entscheidet. Hier kann eine Offensive der Landesregierung gerne ansetzen: Eltern klarmachen, dass ihrem Kind am Ende alles offen steht, auch wenn es nicht nach der 4. Klasse ans Gymnasium wechselt. Das bayerische Bildungssystem ist so durchlässig wie nie. Man kann es auch über eine Berufsausbildung an die Hochschule schaffen. Überhaupt muss in der Schule angesetzt werden: Bayern darf nicht zulassen, dass junge Menschen ohne Abschluss - immerhin sechs Prozent - oder mit rudimentären Rechen-, Lese- und Schreibkenntnissen ins Leben hinausgehen. Diese Defizite auszugleichen, kann nicht Aufgabe eines Ausbildungsbetriebs sein. Die Betriebe müssen sich ihrerseits bemühen, attraktive Arbeitgeber zu sein. Wenn Lehrlinge wie billige Arbeitskräfte eingesetzt werden, spricht sich das herum und schreckt ab. Ausbildende Betriebe sollten mit breiten Schultern auftreten und klarmachen, dass das Handwerk Selbstverwirklichung, Karrierechancen und gute Verdienstmöglichkeiten birgt. Und die Politik sollte sich hüten, deutsche Stärken zugunsten einer europäischen oder internationalen "Harmonisierung" preiszugeben. Schon gar nicht, wenn sie Nivellierung nach unten bedeutet.
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