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Hinfahren und hinsehen
Es kostet ein hohes Maß an Überwindung, in Auschwitz genau hinzuschauen. Aber das darf nicht als Ausrede dienen.
Von Ulrich Krökel

Regensburg (ots)

Vorweg sei ausnahmsweise ein persönliches Bekenntnis erlaubt. Als Polen-Korrespondent habe ich mich viele Jahre lang vor einem Besuch in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz "gedrückt". Das geschah eher unbewusst als bewusst. Erst 2019 schaffte ich es dann nach Auschwitz. Anlass war der erste Besuch von Angela Merkel in der KZ-Gedenkstätte. Auch die Kanzlerin hatte also 14 Jahre im Amt für diese Reise gebraucht! Und es geht den meisten Deutschen so. Von den 2,3 Millionen Besuchern des ehemaligen Vernichtungslagers kamen 2019 nicht einmal 100 000 aus der Bundesrepublik. Briten, Italiener, Spanier: Sie alle reisen öfter an und sehen hin. Israelis und Polen sowieso. Was steckt dahinter: Verdrängung, Scham, Ignoranz? Schon vor einem halben Jahrhundert haben die Psychologen Margarete und Alexander Mitscherlich mit Blick auf den Holocaust über die deutsche "Unfähigkeit zu trauern" geschrieben. Allerdings ist seither viel an Aufarbeitung passiert. In Büchern und Filmen, in der Kunst und in den Schulen, in politischen Reden und in Entschädigungstaten. In einigen Prozessen konnte spätes Recht gesprochen werden. Im Herzen Berlins erinnert ein Mahnmal an die deutsche Schuld und das unsagbare Leid der Opfer. Viele Menschen in der Bundesrepublik haben inzwischen durchaus eine Fähigkeit zu trauern entwickelt, und das ist keine Kleinigkeit. Allerdings hat man uns Deutsche vielleicht ein paar Mal zu oft dafür gelobt. 75 Jahre nach Kriegsende neigen wir dazu, uns viel darauf einzubilden, dass wir uns dem Grauen der eigenen Geschichte gestellt haben, und so drohen wir wieder in den Verdrängungsmodus zu verfallen. Verständlich ist das. Als verspäteter Auschwitz-Reisender nehme ich selbst für mich in Anspruch, dass es auch heute noch (oder womöglich mehr denn je) ein hohes Maß an Überwindung kostet, als Deutscher genau hinzusehen. Aber das darf nicht als Ausrede dienen. Die Gefahr nämlich ist groß, dass wir "diese ganze Sache" am Ende doch auf sich beruhen lassen, frei nach der Devise: Wir haben in Deutschland so oft betont, dass es niemals einen Schlussstrich geben darf, dass er sich nun wie von selbst zieht. Das Bitterste aber ist, dass der zeitliche Abstand den Hasserfüllten Auftrieb gibt und auch jenen professionellen Schlussstrichziehern, die alles zu einem "Vogelschiss in 1000 Jahren deutscher Geschichte" erklären wollen. Namentlich dies: Mindestens 1,1 Millionen Menschen starben zwischen 1940 und 1945 allein im KZ Auschwitz-Birkenau, meist an qualvoller innerer Erstickung, verursacht durch das Schädlingsvernichtungsmittel Zyklon B, während der "schale, widerliche Geruch verbrannter Leichen das Lager zudeckte wie ein Teppich" (Zeitzeugin Olga Lengyel). Heute debattieren wir in Deutschland oft mit hohem Erregungspotenzial über alltäglichen Rassismus. Die einen hetzen gegen "Messermänner und Kopftuchmädchen" und rufen "Ausländer raus". Die anderen twittern sofort "#Nazis raus" und schwingen die vielzitierte "Auschwitz-Keule". Tatsächlich sollten auch die Gutwilligen ihre Wortwahl lieber einmal öfter überprüfen. Im Gedenken an die NS-Opfer ist nicht immer nur der blanke Hass unerträglich. Auch manche wohlmeinende Formulierung zeugt von einem erschreckenden Unernst. Meine These lautet: Die gegenwärtige Debatte wäre eine vollkommen andere, wenn jeder und jede Deutsche bereits einmal die KZ-Gedenkstätte in Auschwitz besucht hätte. Deshalb sei mir zum Abschluss ausnahmsweise ein Appell erlaubt: Fahren Sie hin und sehen Sie hin. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass der Massenmord in Auschwitz nicht erst im KZ begann, sondern in den Köpfen von Menschen. Von Deutschen.

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