Moralisch überdreht
Markus Söder verweist bei jeder Gelegenheit auf die Covid-19-Toten. Ja, die Zahlen sind zu hoch und müssen runter. Doch scharfes rhetorisches Geschütz trägt dazu nicht bei.
Regensburg (ots)
Die Lage im Land ist ernst. So ernst, dass Markus Söder zu großem rhetorischem Geschütz greift. Alle zweieinhalb Minuten sterbe ein Mensch in Deutschland an Corona, sagte der Ministerpräsident am Mittwochabend im ZDF. Seit einigen Wochen lässt Söder keine Gelegenheit aus, in drastischen Worten auf die viel zu hohe Zahl von Covid-19-Toten hinzuweisen und dies mit moralischen Appellen zu unterfüttern. Er sieht den "ethischen Grundnerv unserer Gesellschaft" getroffen, weil er meint zu beobachten, dass die Todesfälle in der Corona-Debatte nicht hoch genug bewertet würden. Ja, diese Zahlen sind traurig und unerträglich. Jeder Tote ist einer zu viel. Deswegen ist es richtig, dass die Politik darauf regiert und die Zügel straffer anzieht. Doch genauso angebracht, wie die Verschärfung der Maßnahmen ist, genauso unangebracht ist die Schärfe in der Rhetorik. Söder ist damit nicht allein, doch er ist ein besonders prominentes und lautes Beispiel dieser Art der Überdrehung.Politik besteht zu einem wesentlichen Teil aus Kommunikation. Das gilt generell, aber in dieser Krise ganz besonders. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hat staatliches Handeln so tief in das private, öffentliche und berufliche Leben der Menschen eingegriffen. Und es gehört zur speziellen Eigenart der Corona-Politik, dass sie nur funktionieren kann, wenn die Menschen bereit sind, mitzumachen. Keine Verschärfung wird Wirkung zeigen, wenn niemand sie befolgt. Umso mehr müssen alle Maßnahmen gut begründet, schlüssig erklärt, geduldig vermittelt werden. Es ist schon nachvollziehbar, dass Söder nach Argumenten sucht, um seinen harten bayerischen Kurs zu rechtfertigen. Doch wer nüchtern auf die Lage blickt, erkennt die Notwendigkeit, zu handeln. Die Infektions- und Totenzahlen sind zu hoch und müssen runter. Wer das bis jetzt nicht eingesehen hat, wird sich auch von Söders anklagender Rede einer vermeintlichen "ethischen Kapitulation" nicht überzeugen lassen.Zumal der Ministerpräsident nicht klar benennt, wer aus seiner Sicht wovor genau kapituliert. Wer verharmlost die Toten? Wer tut so, als wäre die Lage harmlos? In diesen Punkten bleiben derartige Appelle diffus. Hier wird eine Drohkulisse aufgezogen, ohne sie empirisch zu begründen. Eine politische Rhetorik, die nicht auf brüchigen Argumenten aufbaut, wird die Akzeptanz für die Corona-Politik nicht steigern. Sie wird ihr schaden. Und so drängt sich der Eindruck auf, dass hier von eigenen Schwächen abgelenkt werden soll. Die Infektionslage in Bayern ist wahrlich kein Grund für so viel politische Selbstgewissheit. In keinem anderen Bundesland sind die absoluten Todeszahlen so hoch wie im Freistaat.Das Vertrackte an der aktuellen Lage ist, dass sie nicht frei von Widersprüchen ist. Man kann die Todeszahlen erschütternd finden - und trotzdem mal im Einkaufszentrum shoppen gehen. Man kann die Lage ernst nehmen - und trotzdem das Bedürfnis nach Geselligkeit verspüren. Man kann vorsichtig sein - und trotzdem manchmal die Faxen dicke haben vom vielen Verzicht. In diesem harten Winter kommt zur Sorge vieler Menschen vor dem Virus zunehmend auch Überdruss hinzu. Eine Politik, die diese emotionalen Gemengelagen nicht akzeptiert, wird langfristig nicht funktionieren. Immer weiteres rhetorisches Aufrüsten darf nicht die Lösung sein.In Bayern gilt nun eine Ausgangsbeschränkung, aber Weihnachtseinkäufe zählen offiziell als "triftiger Grund", um das Haus zu verlassen. Wer sucht, wird auch in den politischen Maßnahmen widersprüchliche und -sinnige Punkte finden. All das ist kein Freibrief für Nachlässigkeit. Verantwortungsvolles Verhalten jedes Einzelnen ist weiterhin notwendig. Aber noch mehr moralische Appelle werden das nicht befördern.
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