Wer hat das Zeug zum Kanzler?
Im größten Krisenjahr seit Bestehen der Bundesrepublik werden mit der Bundestagswahl die Machtverhältnisse neu justiert. Leitartikel von Christine Schröpf
Regensburg (ots)
Knapp 300 Tage lebt Deutschland im Corona-Ausnahmezustand, der andere Zukunftsfragen überdeckt. Nichts anderes gilt für die laufende, erneut völlig verrückte Woche: Warnungen vor harten Einschränkungen bis zum Frühjahr, Debatten über eine Impfpflicht für skeptische Pflegekräfte und der Streit über eine Handyverfolgung uneinsichtiger Tagesausflügler rücken aus dem Blickfeld, dass am Samstag mit Ende des CDU-Parteitags die heiße Phase im Ringen um die Kanzlerkandidatur eingeläutet ist. Mit der Wahl des neuen CDU-Chefs ist die Personalie endgültig entscheidungsreif. Nötig ist ein konservativer Tausendsassa, der das Zeug hat, im Herbst Angela Merkel zu ersetzen. Spätestens im Frühjahr muss der Name fix sein. Auswahlkriterien sind idealerweise politisches Gewicht und internationale Expertise, nicht Größe des Egos. Ein neuer CDU-Chef ist jedenfalls nicht per se ein guter Kanzlerkandidat, auch wenn das Friedrich Merz und Armin Laschet deutlich anders sehen - im fälschlichen Vertrauen darauf, dass sie Unions-Umfragewerte von rund 35 Prozent sicher ins Kanzleramt tragen werden.Der Merkel-Faktor bei aktuellen Meinungserhebungen wird dabei sträflich unterschätzt. Die Kanzlerin bindet Wählerstimmen deutlich über das Unionslager hinaus. Sie ist auch weltweit eine Schlüsselfigur. Die CDU-Frau steht für Stabilität in der EU, lenkt bei Krisengipfeln die Staats- und Regierungschefs regelmäßig zu beachtlichen Kompromissen. Gerechterweise sei hinzugefügt, dass sie bei ihrem Amtsantritt 2005 die nun großen Fußstapfen selbst noch nicht ausgefüllt hat, erst Zug um Zug hineingewachsen ist.Welcher Aspirant auf das Kanzleramt lässt ähnliches Potenzial erwarten? Die Messlatte gilt nicht nur für die Union, sondern auch für die Mitbewerber der anderen Parteien: Also für Olaf Scholz von der SPD - und wohl für Annalena Baerbock bei den Grünen, auch wenn die Nominierung aussteht. Sie wäre als Frau und als Jüngste im Männerreigen ein Kontrapunkt.Die CDU richtet den Fokus bisher auf Laschet und Merz, blendet dabei absurderweise denjenigen aus, der in der Wählergunst seit Monaten ganz oben rangiert. Wenn politische Klugheit zählt, müsste die große Unionsschwester die Kanzlerkandidatur an die CSU abtreten und alles dafür tun, Markus Söder den Höllenritt einer Kanzlerkandidatur im Krisenjahr 2021 schmackhaft zu machen.Söders außenpolitisches Profil ist zwar - freundlich formuliert - deutlich ausbaufähig. Ansonsten bringt er die Schlüssel-Qualifikationen mit: Er hat Macherqualitäten. Er kann mobilisieren. Er ist ein Kandidat der Zukunft, mit zeitgemäßen gesellschaftlichen Einstellungen. Er kennt keine Berührungsängste zu den Grünen, die als Koalitionspartner nötig sein werden. Selbst mit Söder als Kanzlerkandidaten wird die Bundestagswahl für die Union nicht zum Selbstläufer. Die Stimmung der Wähler wird sich stark eintrüben, sobald im Frühjahr die wirtschaftlichen Corona-Folgen mit aller Wucht zu Tage treten.Das große Vertrauenspolster, das sich Söder in der Krise aufgebaut hat, schrumpft bereits, zum Teil selbst verschuldet. Der CSU-Chef hat zuletzt häufiger den Ton verfehlt. Kontraproduktiv wirkte der Denkanstoß zur Impfpflicht für Pflegekräfte, obwohl das Unverständnis über Impfskepsis in Reihen des Fachpersonals sehr verständlich ist. Unter dem Strich bleibt Söder der beste Unions-Kandidat. Höchst reizvoll wäre die Herausforderung für ihn allemal. Obwohl die Rolle der CSU in Berlin dann neu definiert werden muss. In Berlin regieren und parallel in Bayern ein wenig Opposition spielen: Dieser Doppelstrategie wäre bei einer Kanzlerkandidatur und späteren Kanzlerschaft die Grundlage entzogen.
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