Leben und leben lassen
Das Volksbegehren zur Abberufung des Landtags folgt einer gefährlichen Maxime. Der Blick sollte sich aber auf wichtige Gemeinsamkeiten richten. Von Christine Schröpf
Regensburg (ots)
Die wunderbare bayerische Maxime vom "Leben und leben lassen" kann friedliches Miteinander regeln. Leider hat der schöne Grundsatz durch die Corona-Krise viel an Leichtigkeit eingebüßt. Das Trennende verstellt nach eineinhalb Jahren Pandemie den Blick auf das Gemeinsame. Speziell die Meinungsfreiheit wird inzwischen oft so ausgelegt, dass nur mehr die eigenen Ansichten Platz haben. Eine Unart, die nicht allein im Lager der Corona-Leugner zu beobachten ist, dort jedoch besonders häufig: Die, die am lautesten eigene Einschränkungen beklagen, hebeln dieses zentrale Grundrecht besonders gerne aus. Das Volksbegehren zur Abberufung des Landtags, bei dem "Querdenker" zu den treibenden Kräften zählen, folgt diesem Muster. Es atmet den unbayerischen Geist des "was mir nicht passt, muss weg". Die 205 Landtagsabgeordneten, eigentlich bis 2023 gewählt, sollen in Neuwahlen gezwungen werden, die nach Logik der Aktivisten zu "liebsameren" Politikern führen, die keine Corona-Schranken setzen und im Zweifel Bundesregeln ignorieren. Der Schlachtruf "Söder muss weg" zielt auf den prominentesten Vertreter aus dem "Team Vorsicht" der Pandemie-Politik. Söder eignet sich gut als Reibungspunkt. Dennoch ist es ein leicht durchschaubares Manöver, das verdecken soll, wie dünn die Argumentationslinie ist. Denn selbst wenn das Volksbegehren erfolgreich wäre: Was den Initiatoren vorschwebt, ist in Bayern nicht mehrheitsfähig. Kritische Debatten zum Corona-Kurs gab es im Parlament übrigens immer. Die FDP hat in vielen Punkten nachgebohrt. Umstrittene Corona-Regeln wurden immer wieder auch von Gerichten überprüft. Eine Reihe von Klagen waren erfolgreich. Niemand kann also abstreiten, dass die Demokratie trotz Holprigkeiten in der Krise ziemlich gut funktioniert hat. Nicht zuletzt das Volksbegehren ist dafür der Beweis: In einer wahren "Diktatur" würde es nicht stattfinden. Die Demokratie hält auch aus, dass die Initiatoren den tieferen Sinn des Artikels 18 der bayerischen Verfassung konterkarieren. Der Passus zur möglichen Abberufung des Landtags durch Bürger wurde 1946 unter dem Eindruck der Nazi-Diktatur für echte und nicht für gefühlte Notstände ersonnen. Mit mindestens einer Million Mitstreiter als Voraussetzung für einen späteren Volksentscheid war die Latte wegen der damals deutlich weniger Wahlberechtigten zudem de facto höher als heute gelegt. Doch das ändert an einer Sache nichts: 2021 muss und kann man wie 1946 auf die Bürger Bayerns vertrauen, die schon das Richtige tun, wenn es darauf ankommt. Es gibt vieles, das uns in Corona-Zeiten über Gräben hinweg verbindet. Die Lust an einem unbeschwerten Leben zählt dazu. Sogar verstärkt hat sich, wie wichtig die eigene Familie ist. Corona-Leugnern liegt ebenso am Herzen, dass ihre Lieben gesund durch die Pandemie kommen. Allein die Wege sind strittig. Skepsis gegenüber Corona-Vorschriften ist übrigens nie verkehrt. Das kann helfen, Regeln zu verbessern. So wirft das weitgehende Abschaffen der kostenlosen Corona-Tests samt Favorisieren der teureren PCR-Tests zu Recht Fragen auf. Es verstärkt den Eindruck einer Impfpflicht durch die Hintertür und schürt Widerstand. Besser wäre es gewesen, zumindest für eine Übergangszeit wenigstens einen Test pro Monat für alle gratis zu halten, um Härten abzufedern. Eine Entschuldigung für sinnfreies "Querdenken" sind die neuen Regeln aber nicht. Wobei der Begriff bereits schräg ist. Beim harten Kern hat es nicht viel mit Denken, sondern sehr viel mit Zorn zu tun. Warum nicht lieber leben und leben lassen? Auf Corona gemünzt bedeutet das: Wer sich nicht impfen lassen will, lässt es bleiben und nimmt statt des aus seiner Sicht geringeren Risikos von Nebeneffekten in Kauf, dass es für ihn auch im Alltagsleben Unterschiede gibt. Jeder hat die freie Wahl - sie hat aber immer Konsequenzen.
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