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Landeszeitung Lüneburg: "Es darf keine Denkverbote geben" - Interview zum Klimawandel mit Umweltpolitiker Dr. Matthias Miersch und Klimaforscher Prof. Mojib Latif

Lüneburg (ots)

Kommt alles noch viel schlimmer? Forscher
schlagen Alarm: Der Klimawandel vollzieht sich weit schneller als 
selbst in den pessimistischsten Szenarien vorhergesehen. Der Druck 
auf Politiker wächst, wirklichen Klimaschutz umzusetzen. In dieser 
für die weitere Klimaentwicklung auf unserem Planeten so wichtigen 
Phase absorbiert die Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise viel
Energie, Fantasie und Geld. Doch die Krise lässt auch hoffen, meinen 
der Klimaforscher Prof. Mojib Latif und der SPD-Bundestagsabgeordnete
Dr. Matthias Miersch: "Es wurde gezeigt, dass wir mit Mut und 
Tatkraft gemeinsam vorgehen können."
Trotz aller Klimadramatik bläst die Menschheit mehr Klimakiller in
die Atmosphäre als in den 90ern. Verhallen ihre Alarmmeldungen 
ungehört, Prof. Latif?
Prof. Mojib Latif: Ungehört nicht. Aber wir haben mittlerweile 
kein Erkenntnisproblem mehr, sondern ein Umsetzungsproblem.
Grundsätzlich muss man die Dimension des Problems erst begreifen, 
bevor man bereit ist, etwas zu tun. Bei der Finanzkrise ist das der 
Fall. Hier will die Politik klotzen, nicht kle"ckern. Beim 
Klimawandel oder allgemeiner gefasst beim Nachhaltigkeitsproblem, 
also der Frage, wie wir künftig auf diesem Planeten noch leben 
wollen, ist die Brisanz noch immer nicht in den Köpfen der 
Verantwortlichen angekommen. Global betrachtet, passiert genau das 
Gegenteil des eigentlich Notwendigen: Die Menschheit entlässt immer 
mehr Treibhausgase in die Atmosphäre. Per saldo gibt es keinen 
Klimaschutz.
Herr Dr. Miersch, fürs Umsetzen wissenschaftlicher Erkenntnisse in
praktische Politik sind Sie zuständig. Ist die Politik dazu nicht 
willens?
Dr. Matthias Miersch: Das sehe ich nicht so. Die Dramatik des 
Klimawandels ist mittlerweile bei allen Politikern angekommen. Das 
Grundproblem der Politik ist allerdings, dass sie kurzfristig 
angelegt ist. Ein Kurswechsel in Richtung Nachhaltigkeit, die die 
mittel- und langfristige Perspektive im Blick hat, setzt deshalb 
Überzeugungsarbeit voraus. Klar ist aber, dass wir jetzt handeln 
müssen, selbst wenn wir noch nicht alle Folgen der Erderwärmung 
spüren. Die Politik muss jetzt zum nachhaltigen Handeln auffordern. 
Aber da sind bei den Interessengruppen dicke Bretter zu bohren. 
Dennoch: Es gibt auch erste wichtige Erfolge. Das 
Erneuerbare-Energien-Gesetz, das unter rot-grüner Bundesregierung 
beschlossen wurde und von der großen Koalition gerade novelliert 
worden ist, trägt Früchte. Viele Staaten kopieren inzwischen das 
Modell. Durch vorhersehbare Vergütungssätze wird ein Anreiz 
geschaffen, z. B. in Sonnen- und Windenergie zu investieren.
Weltweit sollen die Milliarden-Konjunkturpakete Wachstum um jeden 
Preis erzeugen. Torpediert die Wirtschaftskrise die Klimawende?
Prof. Mojib Latif: Eigentlich nicht zwangsläufig, vielmehr ist die
Finanz- und Wirtschaftskrise eher eine Chance. Leider ist aber etwa 
das deutsche Konjunkturpaket nicht genügend in die Zukunft gerichtet,
sondern beschränkt sich darauf, bestehende Strukturen zu zementieren.
So profitieren bei der Neuregelung der Kfz-Steuer vor allem die 
Käufer großer Wagen und nicht die Käufer umweltfreundlicher Wagen.
Ich hätte mir gewünscht, dass in diesem Konjunkturpaket mehr Mittel 
für die Entwicklung neuer Technologien eingesetzt würden. Auch die 
Bildung beziehungsweise die Forschung als wirklich zukunftsträchtige 
Bereiche kommen zu kurz.
Der Gegensatz zwischen Ökonomie und Ökologie ist konstruiert. Beide 
Bereiche müssen zusammen gedacht werden, sonst haben wir keine Chance
auf diesem Planeten weiterhin in Wohlstand zu leben.
Die Rezession verbilligt das Erdöl. In der Folge entschärfte 
Berlin Ökoauflagen für Autokonzerne, investiert jetzt in Straßen. Ist
das Gedächtnis der Politik zu kurz für weltgeschichtlichen Wandel?
Dr. Miersch: Nein, das Problem ist, dass die Politiker in Berlin 
den unterschiedlichsten Einflüssen ausgesetzt sind. Tatsächlich 
prallen auch im Bereich Ökologie unterschiedliche Interessen 
aufeinander, die bei der Aushandlung eines Kompromisses ausgeglichen 
werden müssen.
Gerade die notwendige Ökowende in der Automobilindus"trie trifft uns 
in Deutschland ganz massiv, weil wir hier bislang vornehmlich 
Fabrikate fertigen, die ökologisch fragwürdig sind. Diskutieren Sie 
aber mit Vertretern der IG Metall, dominiert die soziale Komponente, 
weil sich die Gewerkschaft natürlich für ihre Klientel einsetzt, die 
die Kurzarbeit überwinden will. Hier gilt etwa die Abwrackprämie in 
erster Linie als Mittel, bedrohte Jobs zu retten. Bei einer solchen 
Sichtweise dürfen wir es aber nicht belassen. Es wird Zeit, dass die 
Automobilindustrie die ökologische Komponente endlich beherzigt, die 
sie über Jahre verschlafen hat.
Dennoch enthält das Konjunkturprogramm auch aus Sicht der 
Nachhaltigkeit positive Punkte, etwa das Investitionsprogramm für 
Kommunen, bei dem das Geld in großem Umfang in die energetische 
Sanierung fließen soll. Zusätzlich hätte man aber etwa auch noch ein 
Programm auflegen können, das den Kauf energieeffizienter 
Haushaltsgeräte fördert.
Prof. Latif berechnet Klimamodelle für Jahrhunderte und 
Jahrtausende; Sie müssen ihre Wiederwahl in sieben Monaten im Blick 
haben. Gibt es ein generelles Verständigungsproblem?
Dr. Miersch: Ja, das ist eindeutig so. Ich hoffe aber, dass die 
Politik verstärkt auf die Wissenschaft hört und zugleich den Menschen
klarmacht, warum jetzt umgesteuert werden muss. Aber leider hören 
Menschen nicht immer gerne die Wahrheit. So fand Jahrzehnte lang eher
der Gehör, der sagte: "Die Renten sind sicher!", als der, der zur 
Eigenvorsorge aufforderte. Wie notwendig hier ein Umdenken ist, 
belegt gerade die Finanzkrise, die die Fragwürdigkeit der 
Fokussierung unseres wirtschaftlichen Denkens auf Wachstum aufzeigte.
Prof. Latif: Aber ich denke, auch das politische System muss an 
die neuen Herausforderungen angepasst werden. Die Abstände zwischen 
den Wahlen sind aus meiner Sicht zu kurz. So könnten Bundestags- und 
Landtagswahlen im selben Jahr stattfinden. Derzeit herrscht quasi 
ständig Wahlkampf. Auch die Verlängerung von Legislaturperioden bei 
einem gleichzeitigen Wiederwahlverbot wäre sinnvoll. Dann würden die 
Politiker für acht oder zehn Jahre eine Aufgabe übernehmen ohne dem 
Zwang ausgesetzt zu sein, für eine mögliche Wiederwahl 
Partikularinteressen zu bedienen. Ich denke, die Demokratie müsste 
reformiert werden, um längerfristige Planungen im Sinne der 
Nachhaltigkeit auch umsetzen zu können.
Die Meeresspiegel steigen schneller, die Versauerung der Meere 
lässt gigantische Todeszonen entstehen. Erweisen sich die 
Klimaerwärmungsmodelle als zu moderat?
Prof. Latif: Solche Annahmen sind Spekulation. Kein Mensch weiß, 
wie schnell die Meeresspiegel steigen oder wie die Ozeane auf den 
Eintrag von CO2 reagieren. Ob die Entwicklungen noch dramatischer 
sind als bisher angenommen, sei dahingestellt. Die Lage ist 
dramatisch genug, da muss nicht ständig noch einer oben draufgesetzt 
werden. Der einzig wirklich konkrete Faktor ist die Menge der 
Spurengase, die wir in die Atmosphäre entlassen. Und das ist in der 
Tat viel mehr als das, was wir unseren Klimamodellen zu Grunde gelegt
haben. Unser worst case bei den möglichen künftigen 
Klimaentwicklungen ist noch geschönt, weil wir in den letzten Jahren 
mehr Treibhausgase produziert haben als selbst die pessimistischsten 
Modelle angenommen hatten. Im nächsten UN-Klimabericht, der 
vermutlich 2013 erscheint, werden bedrohlichere Szenarien präsentiert
werden, weil uns einfach die Wirklichkeit einholt.
Der Treibhauseffekt selbst ist dagegen ein alter Hut. Schon vor 100 
Jahren haben Kollegen von mir errechnet, was passiert, wenn sich der 
CO2-Gehalt in der Atmosphäre verdoppelt. Nur: Damals konnte sich 
niemand vorstellen, dass das wirklich passiert. Es war völlig 
undenkbar, heute sind wir auf dem besten Weg dahin.
Die Krise bewirkte in der Ökonomie das Comeback des starken 
Staates. Ist das auch in der Ökologie denkbar?
Dr. Miersch: Die Lehre, die man aus dieser Krise ziehen kann, ist 
die, dass das freie Spiel der Kräfte nicht immer zur Problemlösung 
führt, sondern manchmal grenzenlose Probleme schaffte. Da stelle ich 
mir vor, dass der von der Gesellschaft dafür legitimierte Staat dafür
sorgt, dass es wieder Grenzen gibt. Appelle alleine bringen nichts, 
das haben wir bei den Selbstverpflichtungs"erklärungen der 
Automobilkonzerne gesehen. Deshalb brauchen wir einen klaren 
Ordnungsrahmen, den der Staat setzen muss. Gerade im Bereich Umwelt 
muss der Staat -- in diesem Fall am besten Europa -- bestimmte 
Standards vorgeben. Dem Produzenten muss klar sein, dass er nach 
Übergangsfristen diese Effizienz- oder Nachhaltigkeitsstandards 
einhalten muss. Macht er das nicht, fliegt er vom Markt. Was bei 
Glühbirnen und Haushaltsgeräten möglich ist, muss auch bei Autos 
durchführbar sein. Was die EU in dieser Richtung in den vergangenen 
Jahren geleistet hat, ist ein Trauerspiel. Ein Beispiel ist die 
Ökodesign-Richtlinie, die hohen bürokratischen Aufwand, aber kaum 
Wirkung erzeugt.
Prof. Latif: Drei Punkte können wir aus der Finanzkrise lernen: 
Zum ersten das Denken in ganz neuen finanziellen Dimensionen. Man 
kann die globalen Umweltprobleme nicht mit Almosen lösen. Man muss 
schon ähnlich klotzen wie jetzt in der Wirtschaftskrise. Der Ökonom 
Nicholas Stern hat es errechnet: Ein Prozent des globalen 
Bruttoinlandsproduktes muss aufgewendet werden, um den Klimawandel 
abzupuffern. Das sind für Deutschland 20 Milliarden Euro. Das sollte 
uns die Umwelt schon wert sein. Setzt man dieses Geld nicht ein, 
spart man an der falschen Stelle, denn die Kosten eines ungebremsten 
Klimawandels sind ungleich höher.
Dr. Miersch: Ähnlich ist die Lage im Bildungsbereich. Hier müssen 
wir ebenso beherzt eingreifen...
Prof. Latif: Zweiter Punkt: Es müssen alle zusammenarbeiten. Ohne 
eine weitreichende internationale Kooperation können wir dem 
Klimawandel nicht begegnen. Es nützt ja nichts, wenn wir in 
Deutschland CO2 einsparen, aber dafür in den USA oder China die 
mehrfache Menge ausgestoßen wird.
Und der dritte Punkt ist: Es darf keine Denkverbote geben. Die 
Finanzkrise hat den Orientierungsrahmen in der Wirtschaftspolitik 
blitzartig gekippt. Wer als Bundespolitiker in Verantwortung noch vor
einem Jahr das Wort "Verstaatlichung" in den Mund genommen hätte, 
wäre gelyncht worden...
Dr. Miersch: ...zumindest vom Verfassungsschutz beobachtet 
worden...
Stichwort Denkverbote: Die Polkappen schmelzen schneller als 
befürchtet, Tropentiere sind stärker gefährdet -- wünschen sich 
Forscher angesichts der Dramatik bisweilen Politiker mit Mut zu 
Zwangsmaßnahmen?
Prof. Latif: Also mir ist noch die Diskussion im Ohr um die 
Neugestaltung der Kfz-Steuer. Da hat Matthias Wissmann (Präsident des
Verbandes der Automobilindustrie; d. Red.) immer gewarnt, es dürfe 
keine Strafsteuer geben. Für diese Forderung habe ich kein 
Verständnis. Warum sollte es keine Bestrafung geben, wenn Regeln 
verletzt werden? Wer die Umwelt verpestet, muss dafür zur 
Rechenschaft gezogen werden. Bisher ist das noch kaum der Fall, 
obwohl klar ist, dass hier der Staat auch das Verursacherprinzip 
geltend machen muss.
Zudem muss es auch Regelungen geben für den Fall, dass 
Selbstverpflichtungen nicht eingehalten werden.
Dr. Miersch: Genau.
Prof. Latif: Man kann nicht -- wie jetzt in Brüssel geschehen -- 
die Verringerung des CO2-Ausstoßes der Wagen auf 2015 verschieben. 
Wer eine klare Selbstverpflichtung nicht einhält, darf nicht mit 
einer neuen Frist belohnt werden. Ich weiß genau, was 2015 
passiert...
Dr. Miersch: ...Dann ist der Druck auf die Automobilindustrie nach
deren eigener Wahrnehmung wieder zu groß...
Prof. Latif: ...und die Frist wird verlängert. In der Folge 
passiert nichts. Tatsächlich können Wirtschaftsbosse doch viel eher 
mit klaren Vorgaben leben. Es gibt Planungssicherheit, wenn sie 
wissen: Das sind die Vorgaben für die nächsten 20 Jahre und an denen 
wird nicht gerüttelt. Präsentiert die Politik dagegen einen 
Schlingerkurs aus kurzfristigen Maßnahmen, ist es auch verständlich, 
wenn Unternehmer keine langfristigen Entscheidungen treffen wollen.
Herr Dr. Miersch, Sie repräsentieren die kommende 
Politikergeneration. Können Sie diese Forderungen erfüllen?
Dr. Miersch: Ich finde es schrecklich, wenn Politiker etwas 
versprechen, was sie alleine nicht umsetzen können. Von daher kann 
ich es nicht versprechen. Ich denke aber, in den vergangenen 
dreieinhalb Jahren im Bundestag in diese Richtung gearbeitet zu 
haben. Die Umweltpolitiker ziehen in Berlin sogar parteiübergreifend 
an einem Strang. Uns ist klar, dass Umweltschutz aus seiner Nische 
heraus muss. Ökologisch zu denken, heißt heute auch, sozial zu 
denken: Wer kann es sich künftig noch leisten, zu heizen, mobil zu 
sein, am Leben teilzuhaben? Ökologisch zu denken, heißt heute auch, 
ökonomisch zu denken: Wer in diesen Technologien führend ist, schafft
wirklich zukunftssichere Arbeitsplätze. Die Unternehmen, die den 
Kostenfaktor Energie in ihrer Bilanz minimieren, stehen sicherer am 
Markt als die Verschwender. Hier kann und wird die Politik zusammen 
mit der Gesellschaft lernen. Und letztlich lernen die Politiker auch 
voneinander. So bin ich überzeugt, dass das neue Denken, das sich in 
den USA durchsetzt, auch Europa beflügeln wird.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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