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Landeszeitung Lüneburg: Kriminologe Prof. Christian Pfeiffer im Interview zum Amoklauf von Winnenden: "Tims Eltern müssen endlich reden"

Lüneburg (ots)

Erfurt im Jahr 2002, Emsdetten 2006 und nun
Winnenden: Immer wieder ereignen sich blutige Amokläufe an Schulen. 
Und es sind stets dieselben Erklärungsmuster. Professor Dr. Christian
Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts 
Niedersachsen, spricht über die Gefahr von Computerspielen, den zu 
leichten Zugang zu Waffen, über den Frust von Jugendlichen, der oft 
unentdeckt bleibt, und er kritisiert die Eltern von Tim K., die 
bisher zu den familiären Hintergründen schweigen.
Tim K. galt als ganz normaler Jugendlicher. Warum ist er dennoch 
zum Mörder geworden? Wer hat versagt? Die Eltern, Lehrer, Mitschüler,
die Politik?
Professor Christian Pfeiffer: Ich denke, dass er nicht normal war 
und dass die These der Unauffälligkeit dem Selbstschutz der Lehrer 
dient. Wenn man genau hinschaut, kann man feststellen, dass er schon 
seine Besonderheiten hatte, dass er relativ isoliert war und auch 
nicht überall richtig dabei war. Aber das Problem ist, dass Lehrer 
sich rein zeitlich nicht hinreichend um Kindern kümmern können, die 
am Rande stehen. Solange Schüler nicht massiv durch Gewaltakte 
auffällig werden, sind die Lehrer -- und das ist kein Vorwurf -- eher
passiv. Lehrer haben in Deutschland nicht die Spielräume, sich aktiv 
beratend einzumischen. Sie sind überlastet mit Bürokratie, 
Unterrichtspflichten und organisatorischen Dingen. Dann heißt es, der
war unauffällig, obwohl man insgeheim schon mal dachte: Der arme 
Junge -- sollte ich vielleicht doch mal ein Gespräch mit ihm 
führen...
Die Quelle der ohnmächtigen Wut, die Tim K. mit der Tat umgesetzt 
hat, liegt ja irgendwo in seinem Leben, nicht in Computerspielen. Wo 
und warum die Wut entstanden ist, das wissen wir nicht. Da wäre es 
hilfreich, wenn die Eltern reden würden und wenn die Psychologen, bei
denen er offenkundig in Behandlung war, reden dürften. Die Eltern 
haben bisher nichts sachdienliches beigetragen und sie haben keine 
Aussagegenehmigung erteilt. Ich halte es für nicht akzeptabel, dass 
der Vater und die Mutter schweigen, dass sie der Öffentlichkeit etwas
vorenthalten. Nicht zuletzt die Opfer haben einen Anspruch darauf zu 
erfahren, was mit dem Jungen los war. Es ist -- aus der Erfahrung mit
anderen Fällen dieser Art -- nicht vorstellbar, das ein geliebtes 
Kind, ein heranwachsender Mensch, der im Leben gut verankert ist, 
Freunde hat, Anerkennung bekommt, zu Hause jegliche Unterstützung 
hat, dass so jemand einen Amoklauf begeht. Der Vater ist ein 
Waffennarr. Waffennarren sind Menschen, die Machtbedürfnisse 
befriedigen müssen. Waffen bedeuten Macht. Da fragt man sich, wie der
Erziehungsstil eines so machtbewussten Menschen ist. Es kann auch 
sein, dass Tim K. seinen Vater oder seine Familie für irgend etwas 
"bestrafen" wollte. Aber das alles sind hilflose Fragen. Wir wissen 
noch zu wenig, um diese Tat erklären zu können.
Es muss hier Erklärungen geben. Auch bei dem Täter von Erfurt haben 
wir erst viel später erfahren, dass er in der Familie ein Außenseiter
war, dass der ältere Bruder ihm den Rang abgelaufen hat.
Welche Rolle spielen gewaltbetonte Video- und PC-Spiele bei solche
Taten?
Pfeiffer: Computerspiele sind nur ein Verstärkungsfaktor, aber sie
erzeugen nicht die Wut, die einen zum Amokläufer macht. Erzeugt wird 
sie durch reale Lebensbezüge, durch Verletzungen, negativen 
Erfahrungen, ohnmächtige Situationen. Computerspiele sind dann der 
Modus, sie können die Wut in bestimmte Bahnen der Umsetzung lenken.
Warum entlädt sich solche Gewalt immer wieder in Schulen? Ist sie 
der Ort der Enttäuschungen schlechthin?
Pfeiffer: Das hat mit der Altersphase der Amokläufer in der Zeit 
zwischen geborgener Kindheit und dem Erwachsensein zu tun. Wenn man 
später eingebettet ist in Familie, Beruf, Netzwerke, wenn das Leben 
einen stabilisiert -- meistens jedenfalls, kommt man nicht mehr auf 
solche Ideen, rastet nicht so aus. Bei Jugendlichen dagegen gehört es
definitorisch dazu, dass sie in einer Phase des Übergangs, noch nicht
sehr gefestigt sind. Und deshalb ist es nicht überraschend, dass sich
Krisen bei jungen Menschen eruptiv entladen -- viel häufiger als bei 
Erwachsenen. Solange sie dazu keine Schusswaffen haben, äußert sich 
das eher "harmlos", in Sachbeschädigung etwa. Gefährlich wird es, 
wenn sie den Zugang zu Waffen haben.
Warum sind immer junge Männer die Täter?
Pfeiffer: Weil Frauen wenig Interesse an Gewalt haben. Jungen 
fiebern allem entgegen, was visuelle Gewalt ist.
Gibt es den typischen "Schulhof-Täter"?
Pfeiffer: Die Merkmale sind immer dieselben. Es sind Außenseiter, 
die wenig Erfolg haben, die sich gemobbt fühlen, die keine 
Bezugspersonen haben, mit denen sie Krisen besprechen können, die 
sich selbst als gescheitert empfinden, als ohnmächtig, und die nach 
Macht gieren. Macht verleiht ihnen eine Waffe, und Macht verleiht 
ihnen natürlich der Amoklauf, weil sie dann Herr über Leben und Tod 
sind und die Panik im Auge des Gegenübers sehen können.
Lässt sich ein Amoklauf im Vorfeld erkennen?
Pfeiffer: Wohl nur dann, wenn der Täter vorher Ankündigungen 
macht. Sonst nicht.
Wir müssen uns also eingestehen, dass solche Taten nicht zu 
verhindern sind...
Pfeiffer: Solange es Menschen gibt, wird es immer auch Destruktive
geben, die verzweifelt sind und solche Taten begehen. Die komplette 
Verhinderung wird kein Politiker versprechen können.
Sind solche Taten Kurzschlussreaktionen oder langfristig geplant?
Pfeiffer: Das ist unterschiedlich, es gibt kein klares Muster. Es 
gibt Amokläufe am Tag nach der als massiv ungerecht erlebten 
Kündigung. Dann "mäht" man den Chef oder Kollegen, die man als 
"Schleimer" angesehen hat, nieder. Das sind ganz spontane Taten. Und 
es gibt andere, die sind durch stetiges Kleben von Rabattmarken in 
einem "Ärgerbüchlein" entstanden, wieder und wieder hat man über 
Jahre etwas in sich hineingefressen und irgendwann reicht's.
Oft beziehen sich Amokläufer auf andere Täter. Bekannt sind zum 
Beispiel auch Selbstmordwellen unter Jugendlichen. Wie hoch ist der 
Nachahmungseffekt bei Amokläufern?
Pfeiffer: Sehr hoch. Je intensiver die Berichterstattung, umso 
höher.
Müssen wir also unsere Berichterstattung in solchen Fällen 
überdenken?
Pfeiffer: Nicht Sie. Die Printmedien sind harmlos. Aber das 
Fernsehen berichten viel zu intensiv. Das ist doch alles nur noch 
Unterhaltungsmache. Das hat mit Aufklärung nichts zu tun. Es ist 
absurd, dass polizeiliche Pressekonferenzen live übertragen werden, 
dass die Nachbarn rauf und runter befragt werden, dass man über Tage 
nichts anderes im Sinne hat, als über einen Amoklauf zu berichten. 
Das ist völlig kontraproduktiv und erzeugt negative Helden.
Was muss die Politik tun? Das Waffenrecht verschärfen? 
Zugangskontrollen an Schulen einführen? Killerspiele verbieten? Oder 
schlicht mehr Geld in das Bildungssystem investieren?
Pfeiffer: Man kann den Zugang zu Waffen noch weiter einschränken, 
man kann verhindern, dass Leute zu Hause Waffenarsenale ansammeln. Es
ist überhaupt nicht einzusehen, dass ein mittelständischer 
Kleinunternehmer, der keinen Beruf ausübt, bei dem er damit rechnen 
kann, angegriffen zu werden, solche Waffen in seinem Haus hat. Wenn 
er im Schützenverein schießen will, kann er seine Waffen dort 
unterbringen. Dafür gibt es Waffenschränke, die nicht geknackt werden
können. Ich halte diese Waffenvergabe für risikoreich und 
überflüssig. Im Waffenrecht gibt es sicher Möglichkeiten, die nicht 
ausgeschöpft werden.
Aber der Zugang zu Waffen ist nur die letzte Frage. Schließlich kommt
man ja auch illegal an Waffen ran, auch wenn das für Jugendliche 
etwas schwierig ist. Die zentralen Punkte sind andere. Da zu vermuten
ist, dass bei Tim K. -- wie vorher bei anderen auch -- eine 
Hauptquelle der Verunsicherung, der Enttäuschungen und Ärgernisse 
auch die Familie ist, in der sich Dinge abgespielt haben, die dem 
Jungen nicht die Stabilität vermittelt haben, um in seinem Leben 
konstruktiv und erfolgreich zu sein, entzieht sich da noch viel den 
aktuellen Erklärungsversuchen und den Präventionsvorschlägen. Was wir
machen können ist, nachmittags eine bessere Betreuung in Schulen zu 
organisieren, indem die Lehrer die Möglichkeit bekommen, neben aller 
Wissensvermittlung ein Programm umzusetzen, das ich "Lust auf Leben 
wecken" nennen würde, durch Sport, Musik, Theater, soziales Lernen. 
Also eine attraktive Nachmittagsgestaltung, die Kinder davon 
abbringt, stundenlang am Computer zu spielen. Das wäre ein sinnvolles
Programm, aber nicht um Amokläufe zu verhindern, sondern um 
Leistungskrise der Jungen zu beenden und sie insgesamt auf einen 
besseren Kurs zu bringen.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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