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Landeszeitung Lüneburg: ,,Vollbeschäftigung nur unter bestimmten Bedingungen" -- Interview mit dem Arbeitsmarktexperten Prof. Dr. Uwe Blien (IAB)

Lüneburg (ots)

Dem Arbeitsmarkt stehen harte Monate bevor. Die
Rezession hat schon im Juli deutliche Spuren hinterlassen. Nur dank 
der Kurzarbeit konnte der Arbeitsmarkt stabilisiert werden. Mitten in
diese Krisenstimmung hinein platzierte die SPD ihren 
,,Deutschland-Plan", in dem von bis zu vier Millionen neuen 
Arbeitsplätzen bis 2020 ausgegangen wird und somit das Ziel 
Vollbeschäftigung erreicht wäre. Der Plan ist ,,eher optimis"tisch 
und nur unter bestimmten Bedingungen realistisch", sagt Prof. Dr. Uwe
Blien im Gespräch mit unserer Zeitung. Es komme darauf an, die 
Wirtschaft dort zu fördern, wo ,,die Nachfrage elastisch" ist, sagt 
der Experte vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).
Die SPD hat in ihrem ,,Deutschland-Plan" Vollbeschäftigung als 
Ziel ausgegeben. Wie ist Vollbeschäftigung eigentlich definiert?
Prof. Dr. Uwe Blien: Es gibt keine Einigkeit unter den Experten. Aber
man geht davon aus, dass eine gewisse Zahl an Arbeitslosen 
unvermeidbar ist --- allein dadurch, dass Leute ihren Job wechseln 
oder nach einem Abschluss auf Stellensuche sind. Demnach ist 
Vollbeschäftigung bei einer Arbeitslosenquote von rund drei Prozent 
gegeben. Ein Wert, der übrigens in der Vergangenheit in einigen 
Regionen Deutschlands erreicht worden ist.
Drei Prozent Arbeitslosenquote -- entspricht das ungefähr einer 
Million Arbeitslosen?
Blien: Ja, in etwa.
Bundesarbeitsminister Scholz hat kürzlich gesagt, dass 
Vollbeschäftigung erreicht wäre, wenn kein Erwerbsloser länger als 
ein Jahr auf eine neue Stelle warten müsste.
Blien: Bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit wäre eine sehr weite 
Definition von Vollbeschäftigung. Die Definition ist meiner Meinung 
nach enger zu fassen. Aber, wie bereits erwähnt, gibt es keine 
Einigkeit über den Begriff Vollbeschäftigung.
Laut Frank-Walter Steinmeier sollen allein zwei der vier Millionen
neuen Jobs in der Industrie entstehen. Wie realis"tisch ist dieses 
Ziel?
Blien: Ich habe mir das Konzept von Herrn Steinmeier angesehen und 
denke, dass es eher optimistisch ist und nur unter bestimmten 
Bedingungen rea"listisch sein könnte. Zu diesen Bedingungen zählt, 
dass man darauf achtet, die Wirtschaft dort zu fördern, wo die 
Marktnachfrage elastisch ist. Elastisch bedeutet, dass eine 
Preissenkung von einer starken Expansion der Nachfrage begleitet ist.
Bei Preissenkungen als Konsequenz von technischem Fortschritt würde 
die Nachfrage überproportional steigen und in der Folge Jobs 
entstehen. Trifft technischer Fortschritt allerdings auf inelastische
Nachfrage, würden Jobs abgebaut werden. Es kommt also darauf an, 
Bereiche elastischer Nachfrage zu erschließen.
Welche Bereiche sind das?
Blien: Insbesondere innovative Bereiche, die in ihrem Produktzyklus 
noch ganz am Anfang stehen. Hier gibt es übrigens ein Strukturproblem
der deutschen Wirtschaft: Wir sind im Allgemeinen sehr 
konkurrenzfähig bei Produkten, die bereits eingeführt sind. Andere 
Ökonomien, insbesondere die USA, befassen sich aber stärker damit, 
neue Produkte auf den Markt zu bringen, die eine große Nachfrage 
auslösen können.
Bundesumweltminister Sigmar Gabriel hat schon vor einem Jahr von 
einem Jobwunder im Ökologie-Bereich gesprochen und prognostizierte 
500000 neue ,,grüne? Jobs bis 2020. Ist das realistisch?
Blien: Das kommt darauf an, wie die weitere Entwicklung gestaltet 
wird. Wenn es etwa im Bereich erneuerbarer Energien gelingt, echte 
Kostenvorteile für die Bürger zu schaffen, könnte die Nachfrage 
schnell steigen. Dann könnte es in der Tat ein grünes Jobwunder 
geben. Wenn es der Politik aber nur darauf ankommt, zum Beispiel neue
Umweltstandards zu erreichen, könnten bis zur Umsetzung des Ziels 
zwar einige hunderttausend Arbeitsplätze entstehen. Ist dieser 
Standard aber erreicht, würde weiterer technischer Fortschritt zu 
einem nachteiligen Effekt führen: Der Standard könnte mit deutlich 
weniger Arbeitskräften gehalten werden, es käme also wieder zu einem 
Stellenabbau. Nur wenn tatsächlich eine Nachfrage nach 
umweltfreundlichen Produkten oder auf dem Feld der erneuerbaren 
Energien induziert werden kann, könnte das Jobziel dauerhaft erreicht
werden.
Im Deutschland-Plan visiert die SPD auch eine Million neue 
Arbeitsplätze im Gesundheitsbereich an. Ist das nicht unrealistisch?
Blien: Ich glaube schon, dass der Gesundheitsbereich zu den Feldern 
gehört, wo eine elastische Nachfrage zu erwarten ist. Mit höherer 
Lebenserwartung, aber auch mit höheren Einkommen können die Bürger 
von den Gebieten des täglichen Bedarfs umschalten auf anspruchsvolle 
Leistungen im Bereich des Gesundheitswesens oder der Altenpflege. 
Hier könnten also viele neue Arbeitsplätze entstehen.
Deutschland soll laut der SPD zum Silicon Valley umweltschonender 
Industrieproduktion werden. Gleichzeit fehlen aber schon heute rund 
80000 Fachkräfte. Widerspricht sich das nicht ein bisschen?
Blien: Das ist in der Tat ein Widerspruch. Es kommt darauf an, die 
Qualifikation der nachwachsenden Kohorten auf dem deutschen 
Arbeitsmarkt zu verbessern. Dieses Ziel ist auch im 
Steinmeier-Konzept genannt.
Grundsätzlich kann die Politik nur den Rahmen für ein Jobwunder 
vorgeben. Wo besteht noch Verbesserungsbedarf?
Blien: Es muss eine abgestimmte Vorgehensweise zwischen 
unterschiedlichen Politikbereichen geben. Dazu zählt in erster Linie 
eine starke Technologie- und Bildungsförderung für jene Teile der 
Wirtschaft, bei denen die bereits genannten Bedingungen erfüllt sind.
Auch hier finden sich übrigens Andeutungen im Steinmeier-Konzept.
Ist der Handlungsspielraum des Staates angesichts der hohen 
Verschuldung nicht schon zu stark eingeengt?
Blien: Das ist der Tat ein gravierendes Problem, das auf jede neue 
Regierung zukommen wird.
Im Herbst und Winter steht der Arbeitsmarkt vor schweren Zeiten, die 
Erwerbslosenquote soll deutlich steigen und damit auch das Defizit 
der Bundesagentur für Arbeit, dass sich dann auf mehrere Milliarden 
Euro belaufen dürfte. Gehen Sie von steigenden Arbeitslosenbeiträgen 
im kommenden Jahr aus? Blien: Das ist in erster Linie eine Frage der 
Finanzierung. Entweder wird es zu einer Erhöhung kommen, oder das 
Defizit wird aus Mitteln des Staates gedeckt, das heißt, die 
Bundesgarantie würde greifen.
Bei einem Jobwunder käme auch auf die Bundesagentur für Arbeit 
viel Arbeit zu. Ist die BA dafür gut gerüstet?
Blien: Die Bundesagentur hat schon in den vergangenen Jahren enorme 
Anstrengungen unternommen und es wird laufend weiter verbessert. Ich 
glaube, es bestünden gute Chancen, den Bedarf erfüllen zu können.
Was ist dran an den Meldungen dass der BA die Vermittler 
davonlaufen?
Blien: Das Problem besteht in der Tat bei den großen Jobcentern, die 
sich um Arbeitslosengeld II-Bezieher kümmern. Hier hat die Politik 
versäumt, den Beschäftigten eine klare Perspektive zu geben, wie es 
künftig weitergehen wird. Weil die Mitarbeiter nicht wissen, ob die 
Arbeitsgemeinschaften von Arbeitsagenturen und Kommunen aufgelöst 
werden, sehen sich viele nach anderen Jobs um. Außerdem gibt es bei 
den Jobcentern viele befristete Arbeitsverträge auch dies erhöht die 
Fluktuation.
Die SPD hat vorgelegt. Gehen Sie davon aus, dass die anderen 
Parteien nachziehen werden und es eine Art Wettbewerb um das 
ehrgeizigste Ziel auf dem Arbeitsmarkt gibt?
Blien: Unabhängig von einem derartigen Wettlauf gilt, dass es sehr 
schwierig werden wird, das Ziel Vollbeschäftigung zu erreichen. Zum 
einen lassen sich Konjunkturprobleme der Weltwirtschaft nicht von 
heute auf morgen beseitigen. Es kann also sein, dass es bis 2020 
wieder zu einer weltweiten Krise kommt, die sich nachteilig auf die 
deutsche Wirtschaft auswirkt. Der zweite kritische Punkt ist, dass es
eine regionale Problematik gibt: Einige Regionen vor allem in 
Ostdeutschland weisen eine bestimmte Eigendynamik auf. Dort lässt 
sich Arbeitslosigkeit nicht ohne weiteres derartig reduzieren. Die 
Ökonomie von Regionen läuft wie Tanker: Einmal in eine bestimmte 
Richtung in Bewegung gesetzt, sind sie nur schwer auf einen neuen 
Kurs zu bringen. Hier Vollbeschäftigung innerhalb von zehn Jahren 
erreichen zu wollen, wäre ein sehr ehrgeiziges Ziel.
Das Interview führte Werner Kolbe

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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