All Stories
Follow
Subscribe to Landeszeitung Lüneburg

Landeszeitung Lüneburg

Landeszeitung Lüneburg: Dr. Markus Kaim, sicherheitspolitischer Experte, zum Luftangriff in Afghanistan: "Sauberer Krieg" ist nur eine Fiktion

Lüneburg (ots)

Acht Jahre Einsatz haben die Lage in Afghanistan
nicht verbessert. Im Gegenteil: In den vergangenen fünf Wochen gab es
vier verheerende Anschläge von Taliban auf die ausländischen Soldaten
und afghanische Zivilisten. Bei der Präsidentschaftswahl kam es zu 
massiven Wahlfälschungen. 30 zivile Opfer beim von der Bundeswehr 
angeforderten Luftschlag in Kundus verstärken die Abzugsstimmung in 
Deutschland. Experte Dr. Markus Kaim erwartet ein baldiges Abbröckeln
der ISAF-Mission.
Die ISAF-Luftschläge gegen die Tanklastzüge bei Kundus haben ein 
Tabu geknackt. Wird der Afghanistan-Einsatz jetzt Wahlkampfthema?
Dr. Markus Kaim: Nicht wirklich. Und zwar deshalb nicht, weil der 
Allparteienkonsens abzüglich der Linken zu Afghanistan hält. Bis zum 
27. September wird das so bleiben. Wie es danach weitergeht, ist eine
ganz andere Frage. Ich kann mir vorstellen, dass die eigentlichen 
politischen Folgewirkungen dieses Luftangriffes erst in der nächsten 
Legislaturperiode sichtbar werden. Denn der neue Bundestag, der sich 
Mitte Oktober konstituieren wird, muss sich unmittelbar mit der 
Verlängerung und der Ausgestaltung des Afghanistan-Mandats der 
Bundeswehr befassen. Dieses endet am 13. Dezember. Und da könnte ich 
mir vorstellen, dass der eine oder andere Abgeordnete mit Blick auf 
die Stimmung in den Wahlkreisen zunehmend skeptisch wird. Folglich 
könnte der Druck wachsen, das Mandat mit einer Exit-Strategie zu 
versehen, wie sie im jüngsten Papier von Außenminister Steinmeier 
skizziert wird.
Wird die Marke, die die Wahlkämpfer gesetzt haben, 2013 sollen die
Voraussetzungen für einen Abzug geschaffen sein, dann noch eine Rolle
spielen?
Dr. Kaim: Wenn Politik immer so rational abliefe, wäre es 
wunderbar: Man einigt sich auf ein Ziel und sobald es erreicht ist, 
zieht man ab. Aber so läuft Politik nicht. Wir sehen in allen 
Hauptstädten der westlichen Verbündeten eine große Unzufriedenheit 
mit dem Einsatz, weil die Ergebnisse, auf die die NATO zielt, bisher 
ausgeblieben sind, im Gegenteil sich die Sicherheitslage sogar 
verschlechtert hat. Selbst in Paris, London und Washington, wo man 
sich mit der Anwendung von militärischer Gewalt leichter als in 
Berlin tut, ist die Geduld mit der Afghanistan-Mission langsam am 
Ende. Gerade in den USA werden derzeit Gleichungen aufgemacht, die da
lauten: Wenn wir in Afghanistan nicht innerhalb eines Jahres 
signifikante Verbesserungen sehen, werden wir den Einsatz beenden. 
Das heißt allerdings nicht, dass der Westen Afghanistan völlig 
vernachlässigen wird. Die Verbündeten sprechen über die 
Zusammenarbeit bei der Ausbildung von Polizisten und Soldaten und 
über die Unterstützung von gutem Regierungshandeln. Vielleicht 
bleiben sogar US-Soldaten im Land - allerdings mit einem anderen 
Mandat. Aber die ISAF-Mission der NATO wird sich vermutlich nicht mal
mehr bis 2013 halten.
Für die Regierung stand das Wort "Krieg" bisher auf dem Index. 
Zeugt diese Vernebelungstaktik von mangelndem Respekt gegenüber dem 
Souverän - dem Wähler?
Dr. Kaim: Ich kann die politischen und juristischen Gründe zwar 
nachvollziehen, weshalb die Entscheider das Wort "Krieg" vermeiden. 
Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist es aber überhaupt keine Frage,
was die ISAF-Mission ist: Natürlich handelt es sich um Krieg. Um es 
zu präzisieren: Was NATO und Bundeswehr in Afghanistan letztlich 
machen, ist Aufstandsbekämpfung. Es geht darum, Sicherheit auf dem 
Gebiet Afghanistans auch gegen Widerstand militärisch zu 
gewährleisten. Das wird durch die Bekämpfung der Taliban und durch 
die Ausbildung der afghanischen Armee und der Polizei gewährleistet, 
damit in absehbarer Zeit diese die Aufgabe übernehmen können.
Aufstandsbekämpfung wurde aber selten als Begründung des Einsatzes
genannt, eher Brückenbau und Schutz für Frauen vor Islamisten. Ist 
diese Unklarheit mitverantwortlich für die mehrheitliche Ablehnung 
bei den Bundesbürgern?
Dr. Kaim: Zumindest haben die unterschiedlichen und wechselnden 
Begründungen für ein weitverbreitetes Unwohlsein gesorgt. Noch immer 
verweisen deutsche Politiker auf den 11. September als Begründung, 
als ginge es vor allem um die deutsche Sicherheit, um 
Terrorbekämpfung. Dann müsste die Bundeswehr allerdings ein anderes 
Mandat haben. Etwa das für die "Operation Enduring Freedom", das 
explizit die Terrorbekämpfung vorsah. Aber dieses Mandat ist 2008 
bezüglich Afghanistan nicht verlängert worden. Es kann also ernsthaft
niemand mehr derartiges für die deutschen Truppen behaupten, 
losgelöst von der Frage, ob sich überhaupt noch El Kaida in 
Afghanistan befindet. Die andere Argumentationslinie bezieht sich auf
die humanitären Aktionen wie Brunnen bohren und Schulen bauen. Das 
ist zwar löblich, hat aber nichts mit dem Mandat zu tun. Tatsächlich 
sieht die Resolution 1386 des UN-Sicherheitsrates vor, dass ISAF 
Sicherheit gewährleistet, damit andere - also zivile Helfer und 
afghanische Organisationen - den Wiederaufbau leisten können. In der 
operativen Wirklichkeit konfrontiert dieses Mandat die NATO-Truppen 
in Afghanistan mit einem irregulären Krieg. Hier stehen sich keine 
uniformierten Armeen gegenüber, bei denen sich Freund und Feind 
leicht identifizieren lassen. Hier kämpfen Aufständische aus dem 
Schutz der Zivilbevölkerung heraus. Bei der Aufstandsbekämpfung 
werden also leider immer auch Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen 
werden. Die häufig anzutreffende Fiktion eines "sauberen Krieges" 
lässt sich nicht aufrechterhalten.
Die Alliierten brauchten keine sechs Jahre, um Hitler-Deutschland 
und Japan niederzuringen. Warum gibt es nach acht Jahren immer noch 
keine Sicherheit am Hindukusch?
Dr. Kaim: Der Hauptfehler war, dass zu Beginn der Mission viele, 
nicht nur Deutschland, den Einsatz unterschätzt haben. Viel zu spät 
wurden die notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt - sowohl die
militärischen als auch die zivilen. Die Bundesregierung entsandte 
zunächst 1200 Soldaten, das waren viel zu wenig. Jetzt sind bis zu 
4500 Soldaten vor Ort. Der Kundus-Vorfall zeigte wieder: Wären mehr 
Bodentruppen vor Ort, die imstande wären, die Taliban nicht nur für 
eine befristete Zeit zu vertreiben, sondern die Regionen auf Dauer zu
sichern, wäre die Sicherheitslage besser. Weil wir diese Lage aber 
nicht haben, muss man öfter zu Luftschlägen greifen als angemessen 
ist.
Gefährdet ein baldiger Abzug des Westens das Erreichte?
Dr. Kaim: Das ist schwer zu beurteilen. Sicher ist aber, dass die 
Taliban nach einem Abzug der westlichen Truppen erstarken werden. Es 
wäre denkbar, dass das Land zumindest zweigeteilt wird in ein 
Taliban-Afghanistan und ein Karsai-Afghanistan mit einer steigenden 
Bürgerkriegsgefahr. Außerdem würde das Land wohl erneut zum Spielball
der Nachbarn Iran, Pakistan, Indien und der zentralasiatischen 
Republiken. Offen bleibt, ob das Land erneut Rückzugsraum für El 
Kaida wird. Dennoch wird der Abzug der ISAF wahrscheinlich innerhalb 
der nächsten Legislaturperiode kommen.
Sind die Ziele der Allianz vermessen?
Dr. Kaim: Jetzt nicht mehr. Mittlerweile herrscht Realismus vor. 
Doch für eine lange Zeit waren die Ziele unrealistisch. Die 
Implantierung einer Demokratie westlicher Prägung, die Zerschlagung 
der Drogen-Ökonomie und ähnliches war in den kurzen Zeiträumen zu 
ambitioniert.
Am Hindukusch zerbrach einst das Selbstbewusstsein der Roten 
Armee. Zerbricht dort auch der Zusammenhalt der NATO?
Dr. Kaim: Das glaube ich nicht. Sieht die Zukunft aber so aus, wie
ich es eben skizziert habe, wird das Bündnis in Zukunft 
zurückhaltender sein, bevor sie derartige Missionen übernimmt. Und 
das ist das Problematische angesichts vieler Krisenherde auf der 
Welt. Künftig könnte die NATO wegen der Afghanistan-Erfahrung sogar 
vor einem Einsatz zur Verhinderung eines Genozids zurückschrecken, 
obwohl sich die Wertegemeinschaft sonst schnell darüber einig wäre.
Das niederländische und das kanadische Parlament haben Abzugspläne
verabschiedet. Vorbilder für den Bundestag?
Dr. Kaim: In der Sache müssen sie das nicht sein. Aber diese 
Entscheidungen zeigen zumindest, dass Staaten in einer nüchternen, 
offenen Debatte über derartige Probleme entscheiden können. Diese 
beide Staaten sind für die NATO besonders interessant, weil ihr Abzug
2010 bzw. 2011 eine militärische und politische Dynamik in Gang 
setzen wird. Deren Kontingente sind beim umkämpften Kandahar im Süden
im Einsatz. Wer wird sie ersetzen? Und wie will die Bundesregierung 
im kommenden Jahr - wenn die Niederländer abziehen - der 
Öffentlichkeit erklären, warum sie ihre Truppen vor Ort belässt? Es 
besteht die Gefahr, dass der erste Abzug die gesamte ISAF-Mission 
aushöhlt, weil keine Regierung die letzte sein will.
Hat Kundus die deutsche Illusion endgültig zerstört, es gäbe einen
sauberen Krieg ohne zivile Opfer?
Dr. Kaim: Er hat zumindest das Hauptproblem für die deutsche 
Öffentlichkeit auf die Spitze getrieben. Es hat sich in den 
vergangenen Jahren gezeigt, dass die deutsche Gesellschaft eher 
akzeptiert, dass deutsche Soldaten im Einsatz sterben als dass 
deutsche Soldaten im Einsatz Zivilisten töten. Die bei Kundus 
getöteten 30 Zivilisten unterstreichen, dass ein asymmetrischer Krieg
nicht "sauber" sein kann.
War diese Ernüchterung nötig, um zu einer verantwortungsvollen 
Neudefinition deutscher Sicherheitspolitik zu kommen?
Dr. Kaim: So weit würde ich nicht gehen, aber sie ist notwendig, 
um einen unverstellten Blick auf die Afghanistan-Mission zu erhalten.
Die Politik neigt manchmal dazu, die Dramatik des Einsatzes zu 
verschleiern. Häufig klingen entsprechende Äußerungen harmlos und 
konstruktiv. So ist Krieg aber nicht. Wer also für einen Verbleib der
Bundeswehr am Hindukusch plädiert, muss ehrlicherweise einräumen, 
dass es zu solchen Vorfällen wie bei Kundus kommen kann.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original content of: Landeszeitung Lüneburg, transmitted by news aktuell

More stories: Landeszeitung Lüneburg
More stories: Landeszeitung Lüneburg