Landeszeitung Lüneburg: "Eine klare Risikobewertung fehlt" - Landesärztekammer-Präsidentin Wenker kritisiert Informationspolitik und rät nur Risikopatienten Grippe-Impfung
Lüneburg (ots)
Impfen oder abwarten? Pandemrix oder Celvapan -- welches Serum ist besser. Die geplante Impfkampagne gegen die Schweinegrippe sorgt zunehmend für Verunsicherung -- bei Bürgern und bei Ärzten. "Wir kennen weder das Virus noch die Impfstoffe genau", sagt Dr. Martina Wenker, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen. Zurzeit rät sie nur Hochrisikopatienten dringend, sich impfen zu lassen.
Lassen Sie sich gegen die neue Influenza impfen?
Dr. med. Martina Wenker: Ich habe mich gerade gegen die saisonale Grippe impfen lassen. Mit der Spritze gegen die neue Grippe warte ich noch ein paar Wochen. Sobald die Grippe massiv wird, werde ich mich impfen lassen.
Wovon machen Sie die Entscheidung abhängig?
Wenker: Da ich momentan kerngesund bin und in den nächsten Wochen nicht im Krankenhaus arbeiten werde, gehöre ich nicht zu einer Risikogruppe. Ich warte den Verlauf der Grippe ab. Eine Impfung empfehlen wir derzeit Patienten mit chronischen Vorerkrankungen der Atemwege, des Herz-Kreislaufsystems, der Leber oder Nieren, Diabetikern und Übergewichtigen. Die neue Grippe verläuft im Moment noch harmlos, hat aber durchaus das Potenzial für schwere Krankheitsverläufe. Aber besonders bei Menschen mit chronischen Atemwegserkrankungen, vor allem mit schwerem Asthma oder schwerer Bronchitis, kann es zu Komplikationen kommen, nämlich zu eine Virus-Lungenentzündung. Die beiden Patienten, die bisher in Deutschland an dem Virus gestorben sind, sind an genau dieser Komplikation verstorben. Wir müssen jeweils das Risiko und den Nutzen abwägen. Hochrisikopatienten würde ich dringend zu einer Impfung raten.
Mit welchem Mittel lassen Sie sich gegebenenfalls impfen?
Wenker: Mit Pandemrix. Das ist der Impfstoff mit dem Wirkverstärker, der vom Land zur Verfügung gestellt wird und um den die Diskussion entbrannt ist. Es ist definitiv kein anderer verfügbar. Das Mittel Celvapan, das für die Bundeswehr beschafft worden ist, ist anders, aber nicht besser. Celvapan enthält keine Wirkverstärker, aber Celvapan ist ein sogenannter Vollzellimpfstoff. Von diesen Impfstoffen haben wir schon vor 20 Jahren Abstand genommen. Man setzt inzwischen nur noch Spaltimpfstoffe ein, die nur noch jene Teile der Erreger enthalten, auf die es ankommt. In den Vollzellmitteln sind etliche andere Antigene, die gar nicht benötigt werden. Beide Mittel, Pandemrix und Celvapan, haben auch Nachteile.
Sie beklagen, dass die Debatte über die "Zweiklassen-Impfung" das Vertrauen in die Immunisierungsaktion untergräbt. Aber auch die Ärzteschaft ist, was diese Impfung angeht, tief gespalten. Ist es nicht gerade deshalb besonders wichtig, die Impfung und ihre Begleitumstände öffentlich zu diskutieren?
Wenker: Wir haben es mit einem neuen Virus zu tun, vom dem keiner weiß, wie es sich in den nächsten Monaten entwi"ckelt, aber ungewöhnlich ist, dass sich schon in den Sommermonaten ein Virus verbreitet hat. Zudem sollen Impfstoffe eingesetzt werden, den wir auch noch nicht genau kennen. Das erzeugt Unsicherheit bei den Menschen und bei den Ärzten --- die ja in der Regel ein guter Ratgeber sein sollen. Und nun kommen aus Berlin immer nur scheibchenweise Informationen. Das Bundesgesundheitsministerium und das Paul-Ehrlich-Institut müssen endlich eine klare Risikobewertung erstellen, damit jeder Einzelne entscheiden kann, ob er sich impfen lassen will oder nicht. Das kann man niemandem abnehmen.
Was raten Sie schwangeren Frauen und kleinen Kindern?
Wenker: Mit Sicherheit nicht Pandemrix. Das wird auch kein Arzt tun. Es wird in den nächs"ten Wochen, wahrscheinlich Mitte bis Ende November, einen Impfstoff für Schwangere und Kleinkinder geben, der keine Wirkverstärker enthält.
Celvapan? Darüber weiß man doch noch weniger als über Pandemrixu
Wenker: Genau, und deshalb wird es ein ganz anderes Mittel sein.
Warum hat man sich in Deutschland -- anders als etwa in den USA -- für das Mittel mit den umstrittenen Zusätzen entschieden?
Wenker: Schon im Zuge der Diskussion über die Vogelgrippe gab es ein Musterzulassungsverfahren für Impfstoffe mit Wirkverstärkern, weil man davon ausgeht, dass im Falle einer Pandemie möglichst schnell für einen großen Teil der Bevölkerung einen wirksamen Impfstoffe haben müssen. Der Musterimpfstoff ist also vor Jahren schon hergestellt und zugelassen worden. Die Idee war: Wenn die Pandemie dann kommt, muss man das entsprechende Virus nur noch einbauen und kann das Mittel im beschleunigten Zulassungsverfahren freigeben. Das Problem ist, dass dieses Virus nur sehr langsam wächst und die Ausbeute ziemlich gering ist --- deshalb die Verstärker. Von dem Mittel ohne diese Zusätze müsste man möglicherweise die vierfache Menge spritzen und hätte nicht die nötigen Mengen zur Verfügung. Im Sommer glaubte jeder, der mit leichtem Fieber aus dem Urlaub kam, er müsse sterben. Inzwischen haben die Menschen mehr Angst vor der Impfung als vor der Grippe. Ich hoffe, dass in den kommenden Wochen jeder für sich eine vernünftige Nutzen-Schaden-Bewertung machen kann.
Beim derzeitigen Verlauf ist der Nutzen eher geringu
Wenker: Ja, das stimmt, aber das kann sich schnell ändern, wenn die Bedrohung wächst, also die Zahl der schweren Fälle zunimmt. Die Entscheidung --- übrigens in ganz Europa --- für diesen Impfplan war sicher richtig.
Eine Entscheidung, zu der Experten geraten haben. Die Antikorruptions-Organisation Transparency International hält aber eben jenen Kommissionen und Komitees, etwa der Ständigen Impfkommission beim Robert-Koch-Institut, eine zu große Nähe zur Pharmaindus"trie vor. Wird die Pandemie -- wie angeblich schon bei der Vogelgrippe --- aus wirtschaftlichen Interessen herbeigeredet? Wenker: Herbeigeredet wurde das Virus H1N1 sicher nicht, es ist ja entstanden. Aber klar ist: Das Paul-Ehrlich-Institut und die europäische Zulassungsbehörde EMEA müssen unabhängig sein. Mitarbeiter dieser Behörden dürfen nicht für Pharmakonzerne Vorträge halten können. Das hat eine fatale Außenwirkung. Wir brauchen neutrale Wissenschaftler. Das müssen wir jetzt aus dieser Kampagne lernen.
Angeblich haben die Impfstoffhersteller mit Ministerien und Ländern Verträge geschlossen, die jegliche Haftung ausschließen. Ist das üblich?
Wenker: Wenn es sich um eine Impfung handelt, die von der Ständigen Impfkommission empfohlen wird, haftet die Impfschäden immer das Land. Das ist bei allen Impfungen so. Über den Standard von Verträgen des Landes liegen mir keine Erkenntnisse vor.
Gesundheit ist oft sehr teuer, und wo viel Geld verteilt wird, blüht die Korruption. Hausärzte sollen dafür bezahlt worden sein, dass sie Patienten an bestimmte Kliniken überwiesen haben. Sind das Einzelfälle oder gibt es einen regelrechten Patientenhandel?
Wenker: Ein regelrechter Handel ist mir nicht bekannt. Aber es gibt seit einigen Jahren einen von der Politik gewollten Wettbewerb im Gesundheitswesen, wir haben die sogenannte integrierte Versorgung und es gibt deshalb alle möglichen Formen von Kooperationsverträgen. Im Rahmen dieser Verträge scheint es in einigen Fällen besagte Zuweiserpauschalen gegeben zu haben. Ich bin sehr daran interessiert, das ich diese Fälle mit Ross und Reiter genannt bekomme, damit wir als Kammer mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen vorgehen können. Die Zuweisung gegen Entgelt ist verboten. Ich wehre mich aber gegen das Pauschalurteil, dass viele Kliniken Schmiergelder zahlen.
Bundesärztekammer-Präsident Jörg-Dietrich Hoppe sieht die Gefahr, dass sogenannte Kassenberater Ärzte bedrängen, sich bei ihren Diagnosen an jenen 80 definierten Krankheiten zu orientieren, für die die Kassen deutlich mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds bekommen. Teilen Sie seine Sorge?
Wenker: Die Sorge teile ich. Wenn Kassen sich so verhalten, ist das nicht in Ordnung. Aber auch das ist die Folge gesetzlicher Regelungen. Mit dem Risikostrukturausgleich wurde der Wettbewerb verstärkt, aber es sind zum Teil auch fragwürdige Anreizsysteme geschaffen worden.
Über eine Zweiklassen-Medizin wird nicht erst im Zusammenhang mit der Impfkampagne gegen die Schweinegrippe diskutiert. Warum muss ein Kassenpatient ein halbes Jahr auf einen Facharzttermin warten?
Wenker: In einer älter werdenden Gesellschaft steigt der Bedarf an medizinischer Behandlung und viele Ärzte haben ihre Praxen schon lange geöffnet. Die Zeiten der großen Versorgungsdichte sind vorbei. Wir kommen in Niedersachsen in bestimmten Bereichen langsam in eine Mangelsituation. Wer aber akute Beschwerden hat, wird unverzüglich behandelt.
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