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Landeszeitung Lüneburg: ,,Ziele in Afghanistan niedriger hängen" -- Interview mit dem sicherheitspolitischen Experten Prof. Dr. Carlo Masala

Lüneburg (ots)

Barack Obama hat das "endgame" eröffnet. 30000
zusätzliche eigene Soldaten und rund 10000 der Verbündeten sollen in 
einer 18-monatigen Schlacht Afghanistan stabilisieren. Berlin spielt 
auf Zeit. Dieses Zaudern lässt Deutschlands Einfluss in der NATO 
weiter schwinden, sagt der sicherheitspolitische Experte Prof. 
Masala, der an der Universität der Bundeswehr in München lehrt.
Kann die Afghanistan-Mission noch ein Erfolg werden, nachdem Obama
den Abzug in 18 Monaten angekündigt hat?
Prof. Carlo Masala: Das hängt davon ab, was man als Erfolg definiert.
Folgt man in dieser Frage dem US-Präsidenten, der eine Regierung in 
Afghanistan anstrebt, die für Sicherheit im Innern wie nach Außen 
sorgen kann, ist Skepsis angebracht. Weniger wegen des fixen 
Abzugstermins als wegen der historischen Tatsache, dass ein 
Zentralstaat mit einem legitimen Gewaltmonopol in Afghanistan keine 
Tradition hat. Deshalb ist schwer vorstellbar, dass ein Großteil der 
Afghanen eine solche Regierung akzeptieren wird. Wenn eine solche 
Regierung also das Ziel ist, wird die Mission kein Erfolg. Hängt man 
das Ziel hingegen tiefer, etwa, dass von Afghanistan künftig weder 
für Nachbarn noch für den Westen eine Gefahr ausgeht, kann noch ein 
Erfolg erreicht werden. Zentrale Voraussetzung für beide Ziele ist 
aber, dass man Pakistan stabilisiert, indem die Nachbarregierung in 
Kabul ihre Territorien effektiv kontrolliert.
Ist dieses Ziel mit der 18-Monats-Befristung erreichbar? Die 
Taliban könnten die 18 Monate einfach aussitzen...
Prof. Masala: Einer derartigen, denkbaren Strategie will Obama 
entgegenwirken, indem er Teile der Taliban in die afghanischen 
Strukturen integriert. Die, die ihre Waffen niederlegen -- nach der 
damaligen Definition von Kurt Beck die "moderaten Taliban" -- sollen 
legitimer Teil der Herrschaftsstrukturen werden können. Können 
zugleich die paschtunischen Stammesführer mit viel Geld davon 
überzeugt werden, den radikalen Taliban keine Rückzugsgebiete mehr zu
stellen, können letztere marginalisiert werden.
Ist eine Truppenaufsto"ckung um 40000 Mann nicht zu 
schwachbrüstig, vergleicht man es mit der Mannschaftsstärke, mit der 
die Rote Armee eingerückt war?
Prof. Masala: Ja, auch wenn man es mit den 160000 Mann vergleicht, 
die zeitweise im Irak eingesetzt waren. Militärisch betrachtet, 
braucht man viel mehr Truppen. Politisch betrachtet, gibt es keine 
Chance, sie zu bekommen. Der ISAF-Oberkommandierende General 
McChrystal hatte 40000 Soldaten gefordert, um überhaupt eine Chance 
zu haben, die Taliban zurückzudrängen. Die Gefahr ist, dass diese 
Truppen sich auf die großen Städte konzentrieren und das Hinterland 
den Taliban überlassen. Das kann katastrophale Folgen haben, wie man 
in Vietnam gesehen hat. Zum Erfolg kann diese Taktik nur werden, wenn
den Afghanen in den Bevölkerungszentren das Gefühl einer 
hundertprozentigen Sicherheit vermittelt wird. Bisher ist es so, dass
die westlichen Truppen am Tag die Straßen kontrollieren und sich 
nachts in ihre Kasernen zurückziehen.
McChrystal will die Zivilbevölkerung vor den Taliban schützen, 
statt die Gotteskrieger zu verfolgen. Ist es machbar mit dieser 
Aufstockung light?
Prof. Masala: Der Strategiewechsel ist möglich, aber nur wenn die 
Regierung Karzai endlich als wirkliche Regierung handelt, die sich 
allen Afghanen verpflichtet fühlt und nicht nur den eigenen Pfründen.
Ohne eine verantwortlich handelnde Regierung, steigt nach dem Abzug 
der westlichen Truppen wieder die Bürgerkriegsgefahr.
Sie vertreten die These vom Ende des politischen Westens. Bringt 
die von Obama angestrebte Lastenverteilung der NATO jetzt wieder 
einen Bedeutungszuwachs als Instrument der US-Strategie?
Prof. Masala: Das hängt entscheidend von zwei Faktoren ab. 
Kurzfristig von der Bereitschaft anderer NATO-Staaten, zusätzliche 
Truppen zu stellen. Hier herrscht bisher Zurückhaltung vor. Bei den 
Briten wächst die Kriegsmüdigkeit, die Franzosen haben klargemacht, 
dass von ihnen nichts kommen wird und die Deutschen warten bis zur 
Afghanistan-Konferenz im Januar ab. So wird der Charakter des 
Afghanistan-Krieges als eines amerikanischen Krieges verstärkt. Schon
jetzt engagiert sich Washington in jedem Bereich am stärksten. 
Insofern wird auch der ISAF-Einsatz geprägt von den US-Vorstellungen.
Im Hinblick auf die NATO als Allianz wird es entscheidend darauf 
ankommen, wie das neue strategische Konzept aussieht -- und ob die 
Europäer den Amerikanern in der Vorstellung folgen, dass die NATO 
eine global agierende Allianz sein soll. Danach sieht es derzeit aber
nicht aus. Globale Einsätze sind sicherlich im US-Interesse, aber nur
bedingt im europäischen. Bleibt diese Neuorientierung aus, wird die 
NATO als militärisches Instrument -- nicht als politisches -- weiter 
an Bedeutung verlieren.
Verspielt Berlin mit seinem Zeitspiel seinen ohnehin schwindenden 
Einfluss?
Prof. Masala: Ja, weil Deutschlands Abstieg in die zweite Garde der 
NATO-Staaten auf seine mangelnde Fähigkeit und seine mangelnde 
Bereitschaft zurückgeht, Truppen im Ausland einzusetzen. Was im 
Kalten Krieg noch Einfluss sicherte, die Größe der Armee und die 
Beiträge in die NATO-Kasse, hat an Stellenwert verloren. Deutschland 
hat hier ein strukturelles Problem, weil eine Parlamentsarmee nicht 
so schnell und effektiv in Marsch gesetzt werden kann wie etwa die 
Armee Frankreichs durch dessen mächtigen Präsidenten. Weil Berlin 
beim Afghanistan-Einsatz so oft als Bremser auftritt, schwindet sein 
Einfluss in der NATO.
Verheddert sich Berlin nach dem Kundus-Desaster weiter in 
Stückwerk statt eine große sicherheitspolitische Debatte zu führen?
Prof. Masala: In der Tat. Mit der Ausnahme der Phase nach den 
Anschlägen vom 11. September umgeht Deutschland diese Debatte sein 
1990. Es wird nicht öffentlich diskutiert: Was sind unsere 
sicherheitspolitischen Prioritäten? Wo liegen unsere Grenzen? Dabei 
wäre das sowohl für die Bürger als auch für Verbündeten wichtig, um 
Berechenbarkeit zu erzielen. Falls die SPD als Oppositionspartei den 
Abzug aus Afghanistan zum Thema macht, wird sich die Regierung nicht 
trauen, offensiv eine sicherheitspolitische Debatte über das 
Kernproblem hinter dem Kundus-Zwischenfall zu führen: Das 
Kriegsvölkerrecht, von dem manche Experten sagen, es könne nicht mehr
gelten, weil es die Wirklichkeit asymmetrischer Konflikte nicht 
erfasst. Aus meiner Sicht steckte Oberst Klein in Kundus im Dilemma. 
Hätte er nichts gemacht, und die Tanklastzüge wären zu Anschlägen 
benutzt worden, wäre er zur Rechenschaft gezogen worden. Jetzt hat er
was gemacht -- anscheinend etwas Falsches -- und wird deshalb zur 
Rechenschaft gezogen. Hier fehlt es an der juristischen Grundlage. Es
kann nicht sein, dass jeder Soldat, der in Afghanistan eine 
Entscheidung fällt, daran denken muss, ob ihn die Staatsanwaltschaft 
in Dresden deswegen anklagt oder nicht. Das ist untragbar für die 
Soldaten, wird aber nicht debattiert.
Belegt das Kundus-Desaster die Fragwürdigkeit einer 
Aufstandsbekämpfung mit relativ wenig Truppen? Wer den Boden nicht 
kontrolliert, muss eher zu Luftschlägen greifen?
Prof. Masala: Das ist generell das Problem der Kriegsführung im 21. 
Jahrhundert. Es wird zu sehr auf Luftangriffe vertraut, obwohl trotz 
aller Präzisionswaffen Zivilisten nicht umfassend geschont werden 
können. Afghanistan zeigt aber, dass man einen Gegner, der aus der 
Deckung der Zivilbevölkerung heraus Anschläge begeht, nicht mit 
Luftschlägen niederringen kann. Da braucht man mehr Bodentruppen und 
mehr Special forces.
Im deutschen Wahlkampf wurde ein Abzug 2013 thematisiert. Bröckelt
die ISAF-Mission schon früher ab?
Prof. Masala: Die Diskussion läuft bereits auf eine Exit-Strategie 
hinaus. Die Regierungen wollen Kriterien haben, die sie abarbeiten 
können, um dann sagen zu können: Wir haben unsere Mission erfüllt. 
Das ist auch richtig. Denn wenn man der afghanischen Bevölkerung 
nicht sagt, wann man seine Truppen abzieht, wird man ers"tens als 
Besatzer gesehen. Zweitens raubt man Bevölkerung und Regierung die 
Neigung, selbst Verantwortung zu übernehmen. Ich glaube, die Mehrheit
der Afghanen ist gegen eine Rückkehr der Taliban. Wissen sie aber um 
den nahenden Abzug des Westens, wird ihnen klar, dass sie selbst 
etwas unternehmen müssen, um die Taliban niederzuhalten.
Obwohl die Vernebelungstaktik im Fall Kundus auf Berlin 
zurückschlug, bleibt es dabei. Wann redet Berlin über Krieg?
Prof. Masala: Ich stimme Joschka Fischer zu, der nach seiner Zeit als
Außenminister gesagt hat: "Was ich in Afghanistan sehe, ist ein 
Krieg, aber ich kann nachvollziehen, warum die Regierung diesen 
Begriff meidet." Würde Berlin das Wort Krieg benutzen, käme es in 
Konflikt mit dem UN-Mandat, das keinen Krieg vorsieht, sondern als 
Aufbauoperation definiert ist. Zudem müsste der Bundestag den 
Verteidigungsfall feststellen, was er wohl kaum mehrheitlich tun 
würde. Sollte er es aber dennoch tun, müsste die Kanzlerin laut 
Verfassung das Kommando übernehmen. Einem Soldaten, der am Hindukusch
kämpft, zu erzählen, dass er nur eine Aufbauoperation durchführt, hat
etwas Absurdes. Deshalb war der Schwenk durch den neuen 
Verteidigungsminister zu Guttenberg richtig, Verständnis dafür zu 
äußern, wenn andere von Krieg reden.
Was bleibt von den Erfolgen der Mission nach dem absehbaren Abzug?
Prof. Masala: Folgende Ziele wären erreichbar: kein neuer 
afghanischer Bürgerkrieg, keine Möglichkeit für Terroristen, sich 
dort festzusetzen und keine Chance für die Nachbarn, Afghanistan als 
Spielball zu benutzen. Vorstellungen, Afghanistan demokratisieren zu 
können, waren von Anfang an fehlgeleitet. Davon muss man sich 
endgültig verabschieden. Es kann nur darum gehen, Stabilität zu 
hinterlassen, nicht zuletzt, weil das Land von vier -- möglicherweise
mit dem Iran bald von fünf -- Atommächten umgeben ist.
Falls die Mission Stabilität misslingt -- wird sich der Wes"ten 
nach einer derartigen Niederlage noch jemals zu einer 
friedenserzwingenden Mission aufraffen können?
Prof. Masala: Friedenserzwingend ja, aber nicht mehr für eine 
Wiederaufbaumission. Ich denke, die Zeiten sind vorbei.
Das Interview führte Joachim Zießler

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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