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Landeszeitung Lüneburg: "Den Verfassungsschutz abschaffen"
Politiloge Prof. Grottian wirft den Behörden Versagen auf ganzer Linie vor - Parteien gehören nicht beobachtet

Lüneburg (ots)

Während der Verfassungsschutz Dossiers Ïber 27 Abgeordnete der Linkspartei anfertigt - offenbar auch mit geheimdienstlichen Methoden, können Neonazis jahrelang unbehelligt morden und Terror verbreiten. Wie effektiv arbeiten die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder? Der Berliner Politologe Prof. Dr. Peter Grottian, selbst schon ins Visier der geheimen Ermittler geraten, fordert nicht nur ein Ende der Beobachtung, sondern sogar die Abschaffung der zuständigen Behörden.

Die Beobachtung von Abgeordneten der Linkspartei ist - auch im Hinblick auf den Umfang - nicht neu. Verstehen Sie die Aufregung?

Prof. Dr. Peter Grottian: Die Empörung ist noch einmal gewachsen, weil nicht nur einfache Abgeordnete betroffen sind, sondern auch der Fraktionsvorsitzende, dessen Stellvertreter und sogar eine Bundestagsvizepräsidentin. Natürlich muss man die Debatte über die Linkspartei vor dem Hintergrund sehen, dass sich der Verfassungsschutz erneut als völlig ineffizient, als weitgehend blind und als demokratiegefährdend gezeigt hat bei dem Versuch, rechtsextremistische Kreise hinreichend zu "diagnostizieren" - das ist schändlich misslungen. All das zusammen wirft Fragen auf: Was beobachten die Verfassungsschützer überhaupt? Sind sie dazu befugt? Macht es Sinn, Erkenntnisse des Verfassungsschutzes für die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland noch ernstzunehmen? Das ist die wahre Debatte. Die Zweifel am Verfassungsschutz als Institution sind übermächtig geworden und schütteln die Oppositionsparteien und die Regierungskoalition beinahe gleichermaßen.

Was genau macht den "Salon-Bolschewisten" Gregor Gysi (Zitat: Thomas Oppermann/SPD) zum Staatsfeind?

Grottian: Die Verschärfung besteht ja darin, dass inzwischen durchgesickert ist, dass man eben nicht nur Zeitungsausschnitte über die Mitglieder der Linkspartei gesammelt hat, sondern dass man sie auch mit anderen, mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet hat.

Wie muss man sich das vorstellen?

Grottian: Da gibt es viele Möglichkeiten. Es kann sein, dass man Politiker abhört oder größere Zusammenkünfte durch verdeckte Ermittler begleitet. Dann schreiben diese Leute alles auf und geben es in die Zentrale weiter, und je aufregender und schärfer sie etwas beschreiben, desto gefährlicher scheint es. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich bin selbst fünf Jahre lang vom Verfassungsschutz beobachtet worden. Wenn man sich dann das Ergebnis ansieht, stellt sich meistens heraus, dass es sich um Meinungsäußerungen handelt, um radikaldemokratische Überzeugungen und Vorschläge, die - in meinem Fall - durch die Freiheit der Wissenschaft gedeckt sind und keinesfalls einen "Verfassungsfeind" kennzeichnen würden. Egal, ob es um Prominente der Linkspartei im Bundestag geht oder um einfache Parlamentarier in einem Landtag oder Gemeinderat: Die dürfen alle nicht überprüft werden. Gewählte Abgeordnete haben das Recht, sich frei zu entfalten, ihre Informations- und Entscheidungsfreiheiten zu nutzen.

Gilt das auch für NPD-Abgeordnete?

Grottian: Viele Wissenschaftler und Journalisten wissen doch viel mehr über die NPD als der Verfassungsschutz. Man muss sich entscheiden: Will man sie ausforschen oder verbieten? Beides zusammen geht nicht. Wir haben genügend zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Gruppen und Organisationen, die uns Material zur Verfügung stellen, das allemal besser ist als das, was der Verfassungsschutz dilettantisch zusammenklaubt. Auch die NPD gehört nicht beobachtet, die Partei ist keine reale Gefahr in der Gesellschaft. Sollen uns doch die Innenminister einmal erklären, zu welchem Zeitpunkt gerade der Verfassungsschutz die gesamte Republik vor irgendetwas gerettet hat. Sie werden sehr einsilbig bleiben. In der Regel verdient die Polizei die Lorbeeren, der Verfassungsschutz ist überflüssig wie ein Kropf. Die Gründung der Verfassungsschutzbehörden geht auf eine Zeit zurück, in der die vorherrschende Meinung war: "Keine Freiheit den Feinden der Freiheit". Eine Vorstellung, die in den 50er-Jahren durch den Antikommunismus sehr aktuell war. Aber inzwischen sind wir eine moderne Gesellschaft, wir vertragen radikale Vorstellungen, egal von welcher politischen Position. Wir müssen sie vertragen können, nichts ist schlimmer als Verbote, die nicht dazu dienen, dass die Gesellschaft sich selbst mit den jeweiligen Gruppierungen auseinandersetzt. Solange keine Straftaten passieren, solange keine Gewalt ausgeübt wird, hat der Verfassungsschutz nichts zu schnüffeln. Er muss in seine Schranken gewiesen werden, und wir sollten in Deutschland eine Debatte darüber beginnen, ob man den Verfassungsschutz nicht auch abschaffen kann.

In jeder Partei gibt es Querdenker oder solche, die ab und an Unsinn reden, die damit aber nicht das Profil ihrer Partei prägen. Dennoch legt Innenminister Hans-Peter Friedrich Wert auf die Feststellung, dass es nicht um Personen, sondern um Strukturen geht. Wie passt das zusammen?

Grottian: Alle Parteien haben ihre "Spinner" und Menschen, die ein bisschen unberechenbar sind. Es gehört zur Lebendigkeit einer Partei, dass sie wie ein Hefeteig ist, dessen Ingredienzien man nicht immer genau bestimmen kann. Eine verfassungsgemäße Partei wie die Linke hat das Recht darauf, als Ganzes nicht bespitzelt zu werden.

Es fällt auf, dass vor allem jene verdächtig sind, die früher in der PDS aktiv waren und aus dem Osten stammen, gleichzeitig aber den Reformern zugerechnet werden. Pragmatiker im Osten, Sektierer im Westen? Sind Ihnen die Beobachtungskriterien klar?

Grottian: Dass der Parteivorsitzende Klaus Ernst ausgenommen ist, ist wohl damit zu begründen, dass er früher der WASG angehört und einen Gewerkschaftshintergrund hat. Offenbar hat der Verfassungsschutz gewisse Berührungs"ängs"te. Einen Konflikt mit der IG Metall will der Verfassungsschutz offenbar vermeiden. Man geht hier also taktisch vor. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Misstrauensdynamik, die ein solcher Verfassungsschutz automatisch in Gang setzt, muss unterbrochen werden. Der frühere Berliner Innensenator Ehrhart Körting hat mir ermöglicht, meine Akten einzusehen und ich kann sagen: Weder die Informationen noch die Beobachtungen stimmen, das gilt auch für die Urteilsfindung und die Gefahrenabschätzung. Die Beobachter produzieren nur strukturellen Blödsinn. Das kann man auch in anderen Fällen sehen. Und deshalb muss die Konsequenz sein: Andere staatliche Stellen, - vor allem die Polizei, - und die Zivilgesellschaft müssen diese Aufgaben übernehmen. Verfassungsschutz und Demokratie passen nicht zusammen. Man muss die Bürger zu mehr Demokratie ermuntern und nicht mit einer solchen Behörde ständig verunsichern. Der Verfassungsschutz ist der bewusste Angstmacher, der mehr Demokratie verhindert.

Wie muss diese Demokratie aussehen?

Grottian: Wir sollten doch alle froh sein, wenn mehr Bürger - egal, ob in kleinen Gemeinden oder bei überregionalen Themen wie Rechtsextremismus oder Energiefragen -- - Stellung nehmen und sich für etwas einsetzen. Wir brauchen sehr engagierte, ja aufmüpfige Bürger. Ohne zivilen Ungehorsam ist eine Demokratie heute gar nicht mehr denkbar, weil diejenigen, die wenig Macht haben in der Gesellschaft, ein Ventil brauchen, um ihrem Zorn Ausdruck zu verleihen, - etwa gegenüber den Finanzmärkten oder sozialen Ungleichgewichten.

Werden die Begriffe Rechts- und Linksextremismus in der aktuellen Debatte hinreichend scharf definiert?

Grottian: Da geht einiges durcheinander. Auf dem rechten Auge ist man sehr viel blinder als auf dem linken. Eine starke Demokratie braucht aber keinen Verfassungsschutz. Bei aller Kritik an unserer Demokratie: Sie ist so gefestigt, dass sie das ertragen kann.

Schadet oder nutzt die Debatte der Linken? Immerhin lenkt sie von internen Querelen ab...

Grottian: Zunächst einmal ist wichtig, das die Linke ihre Betroffenheit auch politisch offensiv zu vertreten versucht. Ihr ist ja beigesprungen worden von Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und zum Teil auch von Seiten der CDU. Es gibt schon eine Stimmung im Land, die besagt: Leidet nicht mehr unter Hirngespinsten irgendwelcher Kommunismusverdächtigungen, sondern guckt die reale Politik der jeweiligen Gruppen an, und unter diesem Gesichtspunkt ist die Linke vielleicht sogar zu wenig radikal gegenüber all den Problemen, die wir lösen müssen.

Das Gespräch führte Klaus Bohlmann

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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